Vor Leben bebend
Nizza Thobi sang jiddische und hebräische Lieder

6. März 1996, Nordbayerischer Kurier
Andreas Gewinner

Die "Woche der Brüderlichkeit" hat nicht gut begonnen: Am Anfang des Konzertes von Nizza Thobi stand das Toten-Gedenken. Wolfgang Hammon, einer von drei Vorsitzenden der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, dem Veranstalter des Konzerts, bat das Publikum in fast vollen Kleinen Haus der Stadthalle, sich im Gedenken an die jüngsten Terroropfer in Israel zu erheben. Sie werden nicht die letzten Toten eines Volkes sein, dem in seiner 1000jährigen Geschichte immer wieder das Lebensrecht abgesprochen wurde.

   "Mir lebn ejbig - wir leben ewig", so war  das Programm von Nizza Thobi überschrieben, wie zum Trotz. Jiddische und hebräische Lieder aus mehreren Jahrhunderten, melancholische und heitere Zeugnisse einer Kultur, die stets von der Vernichtung bedroht war, Ausdruck von Trauer und Hoffnung.

   Es sind geistliche ("Herr, erziehe Deinen Sklaven zu Deinem Willen") und weltliche Lieder, wie "Schön sind die Nächte in Kanaan" von Itzhak Katzenelson, der nie das Gelobte Land gesehen hat, aber von einer Liebe ebendort träumte. Der in Auschwitz ermordet wurde. "Es scheint, als passt es nicht, aber es passt", sagt Nizza Thobi.

   Die heute in München lebende Sängerin ist eine Jüdin wie aus dem Israel-Reiseprospekt, deren gewaltige Stimme im umgekehrten Verhältnis zu ihrer schlanken Erscheinung steht. Die hebräischen Texte, reinste Poesie bekannter und unbekannter Poeten, liest sie auf deutsch vor und lässt mit Erläuterungen und Dias das Publikum Anteil nehmen an den Schöpfern ihrer Lieder und ihren Schicksalen. Und in ihrer unkomplizierten Art stellt sie den Zuhörer sich selbst und ihre Familie vor, gibt Einblicke in eine jüdische Biographie nach dem Holocaust: Geboren in Jerusalem am Ölberg, die Mutter spanischstämmige Jüdin, der Vater in englischer Uniform, sie selbst in israelischer Uniform, Sohn David mit Geige. Die musikalische Begleitung ist sparsam, sie spielt Gitarre und wird von Elisabeth Gabler auf der Querflöte begleitet. Mit ihrer Stimme wäre sie auf gar kein Instrument angewiesen. Bei einigen Titeln wird die Klampfe zu einem besseren Percussionsinstrument degradiert.

   Das Schicksal der Wilnaer Gettos, einst eines der Zentren jüdischen Lebens in Europa, steht im Mittelpunkt vieler Lieder: "Unter Deinen weißen Sternen", ein Lied, das die Widerstandskämpfer in von Deutschen umringten Getto sangen, in den Kampfpausen: "Meine Worte sind Tränen/Sie wollen rasten in Deiner Hand."

   Jiddisch, erläutert sie, diese Mischung aus Deutsch, Hebräisch und Slawisch, ist nicht nur eine Sprache, sondern Lebensanschauung und Weltsicht. Sie ist das "sajdn-hemdl", das Seidenhemd, in dem der Israelit aufwächst, das in sein Leben lang bedeckt und das sein Totenhemd wird. Auch das Burleske, komische, ironische hat seinen Platz in den jiddischen Liedern: So in dem vom Fuhrmann, der sein Hab und Gut vertrinkt und sich mit den Gedanken tröstet, "dass Gott ja noch da ist". Mit Animateurtalent bringt sie das Publikum dazu, sangesmässig am Tempel mitzubauen.

   Lebenslust, Gottvertrauen und Trauer, sie wohnen in vielen Liedern nebeneinander, in chassidischen wie Zigeunerliedern. das Kalb, das zur Schlachtbank geführt wird und sich wünscht, Flügel zu haben, das unvergleichlich gesungene Wiegenlied für ein dreijähriges Kind, das seine Mutter verlor. - Flüchtige Zeugnisse unzähliger Toter. mit Asche und Rauch in den Himmel über den Lagern geschrieben, dargeboten von einer Frau, vor Leben bebend.