Catherine Ekstein Stodolsky

 

 

Eine amerikanische Historikerin im Vorfeld und Umfeld

des Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Kultur in München.

Catherine Ekstein Stodolsky wurde 1938 im Pariser Exil ihrer österreichisch-ungarischen Eltern geboren.  Der deutschsprachig-jüdischen Familie gelang unter dramatischen Umständen die Flucht in die USA, wo sie ein neues Leben aufbauen konnte. Bestimmend für Catherines Leben, zum Vorbild für ihr politisches Bewusstsein, für ihr Interesse und späteres Studienfach Geschichte, wurde die gleichfalls nach Chicago emigrierte Schwester ihres Vaters, Lisa Fittko – mit der sie übrigens auch äußere Attraktivität verband. Lisa, eine leidenschaftliche Antifaschistin, führte bei ihren legendären Fluchthilfeaktionen unter vielen anderen die Gruppe um Walter Benjamin über die Pyrenäen – ihre Nichte Catherine war eine der Mitstreiterinnen für das 1994 realisierte Memorial für Walter Benjamin vom israelischen Künstler Dani Karavan in Portbou.

  Catherine war seit 1963 mit Leo Stodolsky, einem amerikanischen Physiker verheiratet. Seit dessen Berufung zum Direktor des Münchner Max-Planck-Institutes 1973 lebte das musisch-intellektuelle Paar mit seinen zwei Söhnen deshalb überwiegend in München.

  1987 wurde Catherine Stodolsky mit der Dissertation „Missionary of the feminine mystique, the female teachers in Prussia and Bavaria 1880-1920” an der State University of New York at Stony Brook, promoviert. Zwischen 1995 und 2006 nahm sie, im Kontakt mit den Professoren Gerhard A. Ritter und Hans Günter Hockerts, regelmäßig Lehraufträge am Historischen Seminar der LMU wahr und führte dort als eine der ersten Dozentinnen „Gender Studies“ und „Oral History“ im Zusammenhang mit der Erforschung von Exil und Judentum ein. Mit Seminaren wie Geschlechtergeschichte und Oral History oder Frauen im Exil bearbeitete sie an der LMU ein neues wissenschaftliches Feld mit Themen, die ab 1997 auch durch den Lehrstuhl für Jüdische Geschichte an der Universität München offiziell etabliert wurden.

  Eine nahezu abgeschlossene Biographie über Lisa Fittko und Catherines „Sorgenkind“, ein weit vorangetriebenes Projekt einer Ausstellung von Bildern, Zeichnungen und Dokumenten der Malerin Malva Schalek – einer anderen Tante, deren Lebensweg in Auschwitz endete – sind ihr Vermächtnis. Die Veröffentlichung des Buches und die höchst wünschenswerte Realisierung der Ausstellung werden zur ehrenden Erinnerung an Catherine Stodolsky beitragen. – Die Historikerin starb, unerwartet für Freunde und Kollegen, die von ihrer Krankheit nicht wussten, am 31. Januar 2009 in München.

 

24. Februar 2009

Rahel E. Feilchenfeldt

 



LISA FITTKO von CATHERINE STODOLSKY

Im Jahr 1985 würde Lisa Fittko`s  erstes Buch Mein Weg über die Pyrenäen in Deutschland veröffentlicht.   Die Resonanz war außerordentlich groß1, und die deutsche Ausgabe wurde ins Französische, Englische, Spanische und Japanische übersetzt und erst vor kurzem, 1999, auch ins Italienische2. 1986 wurde Fittkos Veröffentlichung zum besten politischen Buch des Jahres erklärt, und 1988 gewann das Buch den Preis der Fondation FIAT-Institut de France3. Bereits 1987, anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, hatte Jürgen Habermas über Fittkos Buch erklärt: «Es gibt gewisse Bücher, auch heute noch, ... hinter denen eine der Weißen Rose würdige Lebensgeschichte steht. Lisa Fittkos Erinnerungen an die Jahre 1940/41 sind von dieser Art4

 

Mein Weg ist eine Autobiographie, in der die Autorin ihre Erfahrungen in den Jahren zwischen 1940 und 1941 nach der Niederlage Frankreichs beschreibt. Sie lebte damals als deutsche Emigrantin bereits in Frankreich, und die Angst vor dem Vorrücken der Nationalsozialisten bildet den Hintergrund der Schilderungen, in denen sie ihre eigenen und die Exil-Erfahrungen ihrer Schicksalsgenossen mit den französischen Behörden darstellte, die sie zu feindlichen Ausländern erklärt hatten. Obwohl Fittko das Buch erst fast fünfzig Jahre nach diesen Ereignissen verfasst hatte, beschreibt sie die chaotische Lage im besiegten Frankreich und die Atmosphäre aus Gefahr und Verfolgung auf erstaunlich unmittelbare und dennoch nüchterne Weise. Die Schilderung des Exils in Frankreich und der am Ende erfolgreichen Flucht und Schiffspassage ist noch ein umfangreicheres Kapitel mit Eintragungen «Aus verschiedenen Aufzeichnungen» angeschlossen (Mein Weg, S. 263-281).

 

Nach dem Erfolg dieses, ihres ersten Buches, das von einer Journalistin als «Renner der Exilbiographik»5 bezeichnet wurde, drängte der Verleger auf einen zweiten Memoirenband, der unter dem Titel Solidarität unerwünscht. Meine Flucht durch Europa aber erst sieben Jahre später erscheinen konnte. Er beschreibt die Vorgeschichte jener Exiljahre in Frankreich, die Fittko in Mein Weg dargestellt hatte und beginnt mit Fittkos Leben nach 1933 im Berliner Untergrund. Dabei  liegt das Hauptgewicht auf den Widerstandsaktivitäten der linken Gruppen, denen sie nahestand. Daneben schildert das Buch ihre Flucht von Deutschland nach Prag und ihre Tätigkeit im Widerstand in der Tschechoslowakei und der Schweiz sowie in Holland und Frankreich. Auch dieser Band wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und beide Werke erlebten eine Neuauflage als Taschenbuch in deutscher und englischer Sprache und sind derzeit vergriffen; Neuauflagen sind jedoch bereits geplant6.

 

      Lisa Fittko kam 1909 als Elizabeth Ekstein in Uzgohrod, einer kleinen Stadt an der östlichen Grenze der österreichisch-ungarischen Monarchie, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion gehörte und in der heutigen Ukraine liegt, zur Welt. Die Familie, die aus deutschsprachigem, böhmischem Judentum stammte und deren Vorfahren sich immer schon als bürgerliche Intellektuelle verstanden hatten, zog nach Wien, wo Lisa Fittkos Vater Ignaz während und nach dem Ersten Weltkrieg eine literarische Antikriegszeitschrift Die Waage zuerst von 1916-1918 mitherausgab und anschließend von 1918-1920 als Herausgeber zugleich auch deren Besitzer war. 1918 wurde die Zeitschrift Wage! genannt, um damit der Begeisterung des revolutionären Augenblicks Ausdruck zu verleihen7.

 

Nachdem die Familienersparnisse für dieses idealistische Projekt aufgebraucht waren, zogen die Eksteins 1922 nach Berlin, wo Ignaz eine Tätigkeit im Import-Export-Handel aufnahm und nicht mehr direkt aktiv mit Politik zu tun hatte. Dennoch hatte das linke intellektuelle und politische Umfeld, in dem Lisa Fittko in Berlin und Wien aufwuchs, starken Einfluss auf sie. Ihr frühes Interesse an der Pfadfinderbewegung in Wien, insbesondere an den fortschrittlichen pädagogischen Bewegungen (Montessori), wandelte sich in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu einem kämpferischen Engagement, mit dem sie sich auch an den politischen Kämpfen in Berlin beteiligte8.

 

Als Mitglied einer linken Jugendgruppe nahm Fittko schon früh an Demonstrationen teil und war später auch bei Straßenkämpfen aktiv, in denen sich linke und rechte Parteigänger schon Jahre vor 1933 militant gegenüberstanden. Wie wir aus ihrem zweiten Buch Solidarität unerwünscht erfahren, war sie bei den Ereignissen, die sich während der Machtübernahme der Nationalsozialisten in den Straßen Berlins abspielten, nicht nur Zeugin, sondern aktive Teilnehmerin. Das Buch folgt dem Verlauf der Ereignisse der nationalsozialistischen «Revolution» chronologisch: der nationalsozialistische Fackelumzug am Tag der Machtergreifung und die wichtigsten Etappen dieser Chronologie lauten: der Reichstagsbrand, der Boykott jüdischer Läden, die nächtlichen Verhaftungen. Fittko schildert ihr Leben in der Illegalität, im Niemandsland. Sie wohnt hinter einem Süßwarenladen, wo sie Flugblätter tippt, die zum Sturz des Regimes aufrufen, während der Phonograph in voller Lautstärke Aida spielt.

 

 

Das Buch handelt ferner von den alltäglichen Problemen, die sich aus einem Leben im Untergrund ergeben. Es wird geschildert, wie man lernt, sich ganz im geheimen mit der Bedrohung der Denunziation im Nacken zu bewegen, wie man sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, damit Zeitungsartikel und Flugblätter veröffentlicht und verteilt werden können. Der Leser erfährt, wie die jungen Leute ein Netzwerk errichteten, wie sie von der Gestapo bespitzelt wurden und wie schließlich ein Mitglied nach dem anderen gefangengenommen wurde.

 

Lisa Fittkos Eltern flohen sofort nach Hitlers Machtübernahme zuerst in die Tschechoslowakei, dann nach Wien, wo sie längere Zeit lebten, und dann nach Frankreich, wo sie die deutsche Besatzung überlebten. Lisa selbst dagegen war entschlossen zu bleiben und Widerstand zu leisten. Ihre Eltern ließen alles hinter sich mit der Begründung, sie könnten nicht in einem Land leben, das Juden offiziell boykottierte. Doch Lisa Fittko weigerte sich, Deutschland zu verlassen; ihre Entscheidung zu bleiben spiegelt den Optimismus der jungen Linken wider, die daran glaubte, dass sich die Masse der Deutschen davon überzeugen ließe, der Machtübernahme der Nationalsozialisten Widerstand entgegenzusetzen. Erst als ihr unmittelbare Gefahr drohte, fühlte sie sich gezwungen, über die tschechische Grenze zu flüchten. Sie war damals vierundzwanzig Jahre alt.

 

In Prag machte Lisa Fittko sogleich die Erfahrung, was es bedeutete, ein Leben als Emigrantin zu führen. Sie beschreibt dieses Leben, das darin bestand, Suppenküchen ausfindig zu machen und neue Freunde und Liebhaber zu finden. Die Geschichten, die sie davon erzählt, handeln von Solidarität, aber auch von Betrug; sie beschreiben das Existieren im Exil, das Heimweh, die Atmosphäre der Entfremdung, aber auch so exaltierte Künstlertreffen wie im Kreis um John Heartfield (Mein Weg, S. 11). Einige zerbrechen daran, einer begeht sogar Selbstmord. Dennoch halten Lisa Fittko und ihre Freunde an ihrem unerschütterlichen Glauben fest, dass die nationalsozialistische Diktatur nicht von Dauer sein könne und dass die Fortsetzung des politischen Widerstandes und des Kontakts mit den in der Heimat verbliebenen Freunden sehr wichtig sei. In Prag begegnet Lisa Fittko ihrem zukünftigen Ehemann Hans9, und wenige Monate später verlassen beide die Tschechoslowakei. Fittko hatte an der deutsch-tschechischen Grenze Widerstandsaktivitäten organisiert und die deutschen Behörden darauf die Tschechoslowakei unter Druck gesetzt, die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Nachdem daher Fittko aus der Tschechoslowakei ausgewiesen wurde, entschloss sich Lisa mit ihm zusammen das erste Land, in dem sie nach ihrer Flucht aus Deutschland Aufnahme gefunden hatte, zu verlassen.

 

Die nächste Station ihres gemeinsamen Exils wurde deswegen Basel, wo es das strategisch günstig gelegene deutsch-schweizerisch-französische Ländereck möglich machte, in regelmäßigen Abständen illegal Literatur nach Deutschland zu senden. Dort sammelten sie auch Informationen aus Deutschland, die sie in ihren informationspolitischen Broschüren verwerten konnten. Auch hier bekamen sie Unterstützung durch Einzelpersonen, doch wurden sie schließlich von den Behörden verraten, indem die Schweiz einem Auslieferungsbegehren seitens der Gestapo bereitwillig stattgegeben hatte; doch konnten sie sich dem Zugriff der Behörden rechtzeitig entziehen und ihre Widerstandsarbeit von der Schweiz nach Holland verlegen.

 

Das Buch berichtet davon ausführlich. Diesmal leisteten sie ihre Arbeit von Holland aus und nutzten die Nähe der deutschen Grenze zur illegalen Informationspolitik in Deutschland. Publikationen wurden über die Grenze ins Reich geschmuggelt, das sie immer noch als ihr Zuhause bezeichneten. Ihr Ziel war es, Kontakte aufrechtzuerhalten, den Mut nicht sinken zu lassen und die Hitler-Diktatur zu bekämpfen. Als einige ihrer Kontaktpersonen aber jenseits der Grenze verhaftet wurden, mussten die Fittkos auch Holland verlassen.

 

In Paris, der Metropole der Emigration, trafen Lisa und Hans Fittko im Unterschied zu den meisten anderen Exilanten erst relativ spät ein und hatten daher mit mehr Problemen zu kämpfen als diejenigen, die bereits früher dort angekommen waren. Zwar war die Wiederzusammenführung der Familie ein aufmunterndes Erlebnis, doch wurden diese positiven Aspekte von finanziellen Sorgen und der beengten Situation in den Unterkünften überschattet. Auch die politischen Zwistigkeiten unter den linken Splittergruppen setzten sich fort. Dazu machten die Fittkos die typischen Exil-Erfahrungen, wenn sie von einer Unterkunft zur nächsten ziehen und sich mit Gelegenheits-Jobs über Wasser halten mussten, sofern sie überhaupt Arbeit finden konnten. Gelegenheit zum Widerstand gab es kaum, doch bat man Hans Fittko schließlich, für den staatlichen Radiosender zu schreiben, der Sendungen für die feindlichen Truppen ausstrahlte. Somit war es ihm möglich, deutsche Soldaten über die herannahenden Schrecken des Krieges und den national-sozialistischen Terror aufzuklären. Fittko vermittelt die Anspannung, Angst und Ungewissheit der Situation und schildert die verschiedensten Reaktionen von Seiten der französischen Bevölkerung. Manche halfen, einige hatte man zu fürchten. Man musste immer auf der Hut sein, nicht etwa wohlmeinende Mitmenschen in Gefahr zu bringen. Das Überleben war nur dank der Hilfe derer in Frankreich möglich, «deren Menschlichkeit ihnen den Mut gab, diese vertriebenen Fremden aufzunehmen, zu verstecken, zu ernähren» (Mein Weg, S. 99 f.).

 

Als mit Ausbruch des Krieges Frankreich deutsche und österreichische Emigranten internierte und dabei Männer und Frauen auf getrennte Sammelplätze verteilte, wurden auch Lisa Fittko und ihr Mann getrennt und später in den unbesetzten südlichen Teil von Frankreich deportiert, Lisa nach Gurs, in das Frauenlager zu Füßen der Pyrenäen, und Hans nach Vernuche. Die Beschreibung des Lebens der Frauen in Gurs ist einer der besten erhaltenen Augenzeugenberichte. Geschildert wird dabei, wie die Frauen allmählich in der Lage waren, die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen und in ihrem Unglück eine Art menschlicher und intellektueller Solidaritätsgemeinschaft zu schaffen.

Einige Frauen zögerten, die Möglichkeit einer Flucht aus diesem «Konzentrationslager» zu erwägen, da sie Angst davor hatten, draußen ganz alleine dazustehen. Doch Lisa Fittko wagte es zusammen mit einer Gruppe von Inhaftierten, das Lager zu verlassen, und sich durch das chaotische Frankreich der Vichy-Regierung an die französische Grenze zu kämpfen. Fittko gibt Einblick in das Labyrinth der Bürokratie und schildert, wie verschiedenste Ausweispapiere, etwa abgelaufene oder gefälschte Dokumente, Aus-, Einreise- oder Transitvisa, für die flüchtenden Emigranten lebenswichtig werden konnten, und welche Konsequenzen es hatte, keine Arbeitspapiere oder Bezugsscheine zu besitzen. Mit großer Bescheidenheit beschreibt sie den Einfallsreichtum, der nötig war, um Menschen aus den Fängen der Gestapo zu retten.

 

Ein zentraler Teil von Mein Weg handelt davon, wie Fittko eine geheime Route zur Überquerung der spanischen Grenze ausarbeitete und es den gefährdeten Flüchtlingen dadurch ermöglichte, das neutrale Portugal und damit die Schiffe zu erreichen, die zwischen 1940 und 1941 nach Nord- und Südamerika fuhren. Nach Artikel 19 des Waffenstillstandsabkommens, das von der neu eingesetzten französischen Regierung unter Marschall Pétain unterzeichnet worden war, konnten Ausländer auf französischem Boden auf Verlangen dem nationalsozialistischen Regime ausgeliefert werden. Anstatt mit ihren wertvollen portugiesischen Papieren ins Ausland zu fliehen, übernahmen Lisa Fittko und ihr Mann — beide ohne Pässe und er auf der Liste der Gestapo — die Aufgabe, anderen in Gefahr zu helfen.

 

Der Fluchtweg, ein ehemaliger Schmugglerpfad, den der republikanische General Lister dazu benutzt hatte, seine besiegten Truppen aus Spanien herauszubekommen, wurde Fittko von dem sozialistischen Bürgermeister der kleinen Grenzstadt Banyuls-sur-mer aufgezeichnet. Lisa Fittko und ihr Mann verbrachten sieben Monate damit, Gruppen von drei bis vier Personen, darunter mehr und weniger Prominente, Juden und politische Aktivisten, bis zu dreimal pro Woche von Banyuls aus zur spanischen Grenze zu bringen. Als Ausländern gegen Ende des Jahres 1941 das Betreten der Grenzregion untersagt wurde, begannen die Fittkos, ihre eigene Flucht vorzubereiten.

 

Unter den Emigranten, die aus Frankreich nach Spanien fliehen wollten, war Walter Benjamin nicht zuletzt infolge des tödlichen Ausgangs seiner Flucht, auch rückblickend der bekannteste, dem die Fittkos damals begegnet sind. Die detaillierte und bewegende Geschichte von Walter Benjamins Flucht über die Berge bildet daher auch den Kern des Buches Mein Weg. Lisa Fittko erzählt von Benjamin und einer Tasche, die, wie er zu verstehen gab, für ihn wichtiger war als sein Leben. Heute nimmt man an, dass sich Benjamins letztes Manuskript in der Tasche befand, von dem eine Kopie in Paris erhalten ist10. Der jungen Aktivistin erschien «der alte Benjamin» (er war achtundvierzig Jahre alt) als ein in dieser Situation völlig deplazierter Kavalier der alten Schule. Er schien keine der Eigenschaften mitzubringen, die für das Überleben dringend notwendig waren (d.h. die Fähigkeit des «se débrouiller», sich aus der Klemme helfen zu können).

Wie die meisten anderen deutschen Flüchtlinge war Benjamin nach Marseille gekommen, um einen Weg aus der Falle zu finden, die Frankreich inzwischen für die meisten von ihnen zu werden drohte. Im September des Jahres 1940 lief er Hans Fittko auf der Canebière über den Weg (das Nachrichtennetzwerk der Flüchtlinge funktionierte inmitten des Chaos im besetzten Frankreich erstaunlich zuverlässig); die beiden kannten sich aus dem französischen Internierungslager und von den Exiljahren her, die sie in dem Gebäude mit der Hausnummer 10 in der Rue Dombasle in Paris verbracht hatten, wo die Eksteins und Benjamin Wohnungen gemietet hatten. Hans Fittko erzählte, dass seine Frau Lisa sich derzeit in der Nähe der französisch-spanischen Grenze aufhielte, um Wege zu erkunden, auf denen man aus Frankreich ausreisen konnte. Es war der September des Jahres 1940, und Lisa Fittko war in Port Vendres nahe der Grenze in den Pyrenäen, um Fluchtmöglichkeiten für sich, ihre Schwägerin und deren Baby auszukundschaften. Als Benjamin in Port Vendres eintraf, erklärte Lisa Fittko sich damit einverstanden, ihn mit über die Berge zu nehmen; das wurde die erste Testüberquerung.

 

Sie beschreibt diese Episode in Mein Weg, und als Benjamin zum ersten Mal an die Tür ihrer Unterkunft in dem Bergdorf klopfte, stellte er sich folgendermaßen vor:

 

«Gnädige Frau», sagte er, «entschuldigen Sie bitte die Störung, hoffentlich komme ich nicht ungelegen.»

Die Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit ist unerschütterlich.

«Ihr Herr Gemahl», fuhr er fort, «hat mir erklärt, wie ich Sie finden kann. Er sagte, Sie würden mich über die Grenze nach Spanien bringen.» (Mein Weg, S. 129)

 

Fittko beschreibt anschließend, wie sich Benjamin, der, wie er erwähnte, Probleme mit dem Herzen hatte, für die Überquerung eine spezielle Strategie zurechtlegte:

 

Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig. In regelmäßigen Abständen — ich glaube, es waren zehn Minuten — machte er Halt und ruhte sich für etwa eine Minute aus. Dann ging er in demselben gleichmäßigen Schritt weiter. Er hatte sich das, wie er mir erzählte, während der Nacht überlegt und ausgerechnet: «Mit dieser Methode werde ich es bis zum Ende schaffen. Ich mache in regelmäßigen Abständen Halt — die Pause muss ich machen, bevor ich erschöpft bin. Man darf sich nie völlig verausgaben.»


Was für ein merkwürdiger Mensch, dachte ich. Kristallklares Denken, eine unbeugsame innere Kraft, und dabei ein hoffnungsloser Tolpatsch... ich erinnere mich, dass wir alle recht guter Stimmung waren und uns hin und wieder ein wenig unterhielten. Meistens sprachen wir über die Probleme des Augenblicks: die glatten Felswege, die wärmende Sonne, und wie weit es wohl noch bis zur Grenze war.

Heute... werde ich manchmal gefragt: Was hat er über das Manuskript gesagt? Hat er sich über den Inhalt ausgelassen? Hat er darin ein neues philosophisches System entwickelt?

Du lieber Himmel, ich hatte alle Hände voll zu tun, meine kleine Gruppe bergauf zu führen; die Philosophie musste warten, bis wir über den Berg waren. Es kam darauf an, einige Menschen vor den Nazis zu retten, und da war ich nun mit diesem komischen Kauz, dem alten Benjamin, der sich unter keinen Umständen von seinem Ballast, von dieser schwarzen Ledertasche trennen würde. So mussten wir das Monstrum wohl oder übel über das Gebirge schleppen (Mein Weg, S. 137 f.).

 

Das tragische Ende der Geschichte ist bekannt: Die spanischen Grenzwachen in Port Bou erklärten den Flüchtlingen, daß sich die Bestimmungen wieder geändert hätten, und aus Angst, zurückgeschickt zu werden, nahm sich Benjamin das Leben. Sein Manuskript wurde nie gefunden11. Die Tatsache, dass diejenigen, die zusammen mit Benjamin das Gebirge überquert hatten, in Spanien bleiben durften und spätere Flüchtlinge ebenfalls erfolgreich die Grenze passieren konnten, zeigt, dass solche «neuen Bestimmungen» nicht unbedingt unumgänglich waren: Durch Geld, gutes Zureden oder Zigaretten ließen sich die Grenzwachen umstimmen12. Soweit man weiß, war Walter Benjamin der erste und einzige, der es über den heute als «F»-Route bekannten Fluchtweg nicht schaffte13.

 

Unmittelbar nach ihrer Rückkehr und lange, bevor Benjamins Selbstmord bekannt wurde, fand Lisa Fittko ein Telegramm vor, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie unverzüglich nach Marseille zurückkehren müsse, um ihr portugiesisches Visum verlängern zu lassen, das praktisch das einzig legale Dokument war, das sie besaß. Bei ihrer Ankunft in Marseille erfuhr sie von Hans, daß am selben Abend ein Treffen mit Varian Fry, dem amerikanischen Repräsentanten des Emergency Rescue Committee, verabredet war.

 

Fry beschreibt in seinen Memoiren (die auch ins Deutsche und Französische übersetzt wurden), wie er mit Geld und einer Liste mit ungefähr 200 Personen nach Marseille kam; auf der Liste waren die Namen von politischen Kämpfern, Künstlern und Intellektuellen verzeichnet, die aus Hitlers Europa fliehen mussten und für die er amerikanische Visa besorgen konnte. Die Aufgabe gestaltete sich jedoch sehr viel schwieriger, als er angenommen hatte. Frys Mitarbeiter Albert Hirschmann kam schließlich auf die Idee, dass die Mitwirkung von Hans und Lisa Fittko hilfreich sein könnte. Ihm war bewusst, dass ein effektiver Fluchtweg notwendig war. Wahrscheinlich war ihm zu Ohren gekommen, dass Lisa Fittko Benjamin auf einer neuen Route begleitet hatte. Auch Frank Bohn, Mitglied der American Federation of Labor, nahm an dem Treffen teil. Das Ehepaar Fittko drängte darauf, ein organisiertes System mit ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen aufzubauen; Voraussetzung hierfür wäre die Stationierung einer Person an der Grenze gewesen, die die Flüchtlinge hinüberführen würde. Es war keineswegs ihre Absicht, diese Rolle selbst zu übernehmen, doch auf Frys Drängen hin entschieden sie, ihre eigenen Fluchtpläne für einige Wochen aufzuschieben. Diese Wochen weiteten sich schließlich auf einen Zeitraum von mehr als sieben Monaten aus, und dieses organisierte System, das darin bestand, Menschen in Gefahr zu Fuß über die Pyrenäen zu bringen, wurde in Varian Frys Memoiren, die 1942 verfasst, doch erst 1945 veröffentlicht wurden, als «F»-Route betitelt. Er benutzte nur den Anfangsbuchstaben «F» und nicht den Namen Fittko, um die Familie zu schützen14.

 

Als im April 1941 alle Rettungsaktionen an der französisch-spanischen Grenze dadurch vereitelt wurden, dass die Franzosen auf Anweisungen aus Deutschland hin allen, die keine gebürtigen Franzosen waren, den Aufenthalt in der Grenzregion untersagten, nahmen Lisa und Hans Fittko Varian Frys Angebot einer Überfahrt nach Kuba an. Die beiden kamen mit dem Schiff SS Colonial zehn Tage vor dem Angriff auf Pearl Harbor (Ende November) in Kuba an.

 

Die Jahre in Havanna tauchen in Lisa Fittkos Schriften bislang nur am Rande auf, obwohl sie in einer Reihe von Kurzgeschichten, mit denen sie sich erst neuerdings beschäftigt hat, auch Erinnerungen an ihren Exil-Aufenthalt in Kuba verarbeitet15, und schon in Mein Weg über die Pyrenäen hatte sie vom Jahr 1942 an datierte Eintragungen «Aus dem kubanischen Tagebuch» veröffentlicht (Mein Weg, S. 268 ff.). Die wenigen Abschnitte, die aus diesem Tagebuch überliefert sind, enthalten aber keine weiteren Aufschlüsse über politische Aktivitäten, die das Exil des Ehepaars Fittko bis zu ihrer Flucht aus Frankreich immer wieder mit neuen Aufgaben erfüllt hatte. Hans Fittkos Plan, zusammen mit Fritz Lamm eine Exilzeitschrift erscheinen zu lassen, konnte infolge seiner beginnenden Krankheit nicht realisiert werden, ebenso wenig wie sein Versuch, mit der kubanischen Filiale der Bewegung Freies Deutschland in Verbindung zu treten, die allerdings in Kuba in «anscheinend größere Auseinandersetzungen mit den in Havanna anwesenden ... früheren Parteiführern Brandler und Thalheimer»16 verstrickt war.  Aus den Erzählungen, in denen Fittko ihr Kuba-Erlebnis gestaltet hat, stellt sich das kubanische Exil als eine weitere Periode der Hoffnung und Enttäuschung dar, doch auch der Solidarität, des Wartens auf die Rückkehr «nach Hause», während man ein schwieriges Dasein inmitten von Korruption und Intrige zu bewältigen hatte. Fittko und ihr Mann planten anfänglich noch, von Kuba direkt nach Deutschland zurückzukehren; dies wurde jedoch verunmöglicht, weil der Weg zurück nur über die USA geführt hätte und die USA politischen Flüchtlingen zwar die Einreise und einen Asylaufenthalt, nicht aber die Durchreise nach Europa gestattet hätten. 1948 fand das Exil der Fittkos auf Kuba aber ein Ende; Lisa und ihr Mann Hans Fittko, mit dem sie sich erst jetzt legal verheiratete, reisten damals in die USA, und ließen sich nicht, wie sie zunächst geplant hatten, in New York nieder, sondern in Chicago, denn dort konnten sich auch Lisa Fittkos Eltern niederlassen, die, bis zum Kriegsende in Frankreich untergetaucht, die Zeit der deutschen Besetzung in Frankreich überlebt hatten, und in Chicago lebt Lisa Fittko heute noch. Die Entscheidung, nicht nach Deutschland zurückzukehren, was eigentlich immer ihr Ziel gewesen war, beruhte hauptsächlich auf der Sorge ihres Mannes, daß ihm als Journalist in einem der beiden Teile Deutschlands nicht die politische Freiheit zugebilligt werden könnte, das zu schreiben, was er schreiben wolle. Eine schwere Krankheit hinderte ihn darüber hinaus daran, eine Karriere in Amerika aufzubauen; er starb bereits im Jahr 1960.

 

      Lisa Fittko begann erst nach ihrer Versetzung in den Ruhestand mit dem Schreiben. Sie war ihr ganzes Leben lang berufstätig gewesen und hatte in vier verschiedenen Sprachen gearbeitet. Im Exil, noch vor ihrer Flucht aus Europa, in Kuba und Chicago, war sie als Sekretärin, Stenographin, Übersetzerin und Büroleiterin tätig. Sie wurde zur Hauptfamilienversorgerin vor allem, als ihr Mann erkrankte und ihre betagten Eltern 1949 aus Frankreich nach Chicago übersiedelten. Sie hatte wenig Zeit für Politik oder das Schreiben über ihre Vergangenheit, jedoch begann sie sich zur Zeit des Vietnamkriegs für die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in Chicago zu engagieren, und obwohl sie erst mehr als vierzig Jahre nach den von ihr geschilderten Ereignissen zu schreiben anfing, gelang es ihr dennoch, die spannungsreiche Atmosphäre der Zeit einzufangen.

Dass Lisa Fittko nicht nur zum Schreiben kam, sondern schließlich auch ihre Erinnerungen publizierte, hatte folgende Ursache. Als nämlich ihre Nichte, die Verfasserin des vorliegenden Aufsatzes, 1979-1980 mit ihrem Mann ein akademisches Jahr an der Stanford University in Kalifornien verbrachte und mit dem dort gerade unterrichtenden Gastprofessor Chimon Abramsky der University of London in Kontakt gekommen war, erzählte Lisa Fittko in Abramskys Anwesenheit eines Tages die Geschichte, wie sie Walter Benjamin über die Pyrenäen begleitet hatte. Als sie die schwere Tasche erwähnte, auf die Benjamin mehrmals hingewiesen hatte und die für ihn wichtiger als sein Leben gewesen sei, überlegte Abramsky, ob der Inhalt dieser Tasche tatsächlich so bedeutend sein könne, dass man sich darüber noch Gedanken machen müsste. Er setzte sich daher sofort mit seinem Freund und Benjamins ehemaligem Vertrautem, Gershom Scholem, in Verbindung, und kurze Zeit später meldete sich Scholem bei Fittko. Die Geschichte von Lisa Fittkos erster Überquerung der Pyrenäen wurde zu einer bedeutenden Neuigkeit. Der Suhrkamp-Verlag entsandte Mitarbeiter an die französisch-spanische Grenze, die nach der verschwundenen Tasche suchen sollten und nach einem etwaigen Manuskript, das der Inhalt dieser Tasche gewesen sein könnte. Scholem besprach die Einzelheiten mit Fittko telefonisch, während seine Frau die Geschichte nebenbei auf Hebräisch stenographierte, und er fragte, ob er die Geschichte veröffentlichen dürfte. Lisa Fittko lehnte dies ab und entschied sich dafür, die Geschichte eigenhändig niederzuschreiben. So begann ihre schriftstellerische Karriere. Sie stellte Kontakt mit Michael Krüger vom Hanser Verlag her, der das Buch 1985 publizierte, und Christoph Buchwald, der ihr Lektor werden sollte, hatte entscheidenden Einfluß auf die endgültige Struktur des Buchs.

 

Fittkos Erinnerungen an ihr Exil erschienen in einer Zeit, in der die Zahl der veröffentlichten Exilautobiographien rapide zugenommen hat. Die in Deutschland in den etwa zwanzig Jahren zwischen 1976 und 1995 erschienenen Bücher aus diesem Umfeld erreichten eine Anzahl, die derjenigen der in den vorangegangenen dreißig Jahren publizierten Werke dieser Art entsprach17.

 

Außerdem verstärkte sich das Interesse an Fittkos Werk noch infolge der Tatsache, dass Frauen, abgesehen von bedeutenden Romanautorinnen wie beispielsweise Anna Seghers oder Vicky Baum, damals gerade erst begannen, ihre eigene Sichtweise der Flucht und des Exils zu Papier zu bringen. Die Frauenbewegung hatte in vielen das Interesse an den Lebensgeschichten ihrer eigenen Mütter geweckt. Außerdem hatte die Welle an Interesse für «Alltagsgeschichte» und mündlich überlieferter Geschichte dazu beigetragen, ein neues Publikum für Memoirenliteratur zu schaffen. Zuvor waren viele Geschichten von Frauen in dem von männlichen Erzählungen beherrschten Markt untergegangen, und nur ein Jahr vor Fittkos erstem Buch hatte Gabriele Kreis ihre Frauen im Exil veröffentlicht18. Es war jedoch für Fittko vor allem auch ihre Verbindung zu Walter Benjamin, dessen Werk gerade erst von dem gebildeten Publikum in Deutschland und Frankreich entdeckt zu werden begann, die ihre Geschichte für Rezensenten und Kritiker der intellektuellen Presse so besonders interessant machte.

 

Lisa Fittko sieht sich selbst als politische Schriftstellerin in der Tradition ihrer linksbürgerlichen intellektuellen Vorfahren. Fragen von politischer Bedeutung werden bei ihr so gestellt, dass der Leser sich selbst fragt, was er oder sie an Fittkos Stelle getan hätte. Indem sie Abschnitte in ihr Buch miteinbezieht, in denen ihre Nichte Marlene ihr Fragen über die Bedeutung ihrer politischen Erfahrungen stellt, scheint sie sich direkt an die nächste Generation zu wenden. In anderen Passagen versucht sie offensichtlich, das politische Bewusstsein des Lesers zu wecken und vereinfachten Gedankengängen und Erklärungsmustern entgegenzuwirken, so zum Beispiel der gängigen These, dass sich der Faschismus nur in Deutschland und nirgendwo sonst hätte durchsetzen können.

 

Obwohl Lisa Fittko sich selbst hauptsächlich als politische Emigrantin begreift, ist sie sich bewusst, dass sie auch wegen ihrer jüdischen Abstammung  verfolgt wurde. Fittko unterscheidet häufig zwischen denjenigen, die wegen ihrer Religion verfolgt wurden, und denen, die aufgrund ihrer aktiven Beteiligung an der Bekämpfung des Faschismus und Antisemitismus bedroht waren. Auf die Frage eines Interviewers zu diesem Thema antwortete Fittko folgendermaßen: «Ich hatte oft den Eindruck, dass viele jüdische Emigranten die Verfolgung als etwas Persönliches aufgefasst haben... Ich lebte in einer anderen Welt mit meinen Freunden, die aktiven Widerstand leisteten und die wie ich Antisemitismus und Rassismus als eine der Erscheinungen des Faschismus betrachteten19

 

Da Fittko seit 1942 auf dem amerikanischen Kontinent lebte, begann sie, ihre autobiographischen Schriften auf Englisch zu verfassen, und erst als sie eine deutsche Übersetzung ihrer ersten Geschichte las, mit der sie nicht zufrieden war (es war die Geschichte über Benjamin, die zum ersten Mal im Merkur veröffentlicht wurde20), beschloss sie, zum Deutsch ihrer Jugend zurückzukehren. Dies bedeutete, dass sie, während sie in den Vereinigten Staaten schrieb, ziemlich isoliert war. Offensichtlich erhielt sie beim Lektorieren ihrer Bücher hauptsächlich Unterstützung von einem befreundeten amerikanischen Autor, dem sie ihre Geschichten auf Englisch laut vorlas, indem sie sie während des Lesens übersetzte.

 

Obwohl einige Rezensenten die Authentizität der Dialoge anzweifelten und über Fittkos Fähigkeit, nach vierzig Jahren die Atmosphäre von Angst und Panik genauestens wiedergegeben zu haben, nicht wenig überrascht waren, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Historiker ihre nüchterne Schilderung der historischen Ereignisse lobten und mehrfach die Verlässlichkeit ihrer Berichte betonten21.

 

In einem Interview, das erst vor kurzem mit Lisa Fittko geführt wurde, nannte sie Ernest Hemingway den von ihr (stilistisch, nicht inhaltlich) am meisten bewunderten Schriftsteller. Tatsächlich stößt man in ihrem Werk auf eine Schlichtheit in der Wahl des Ausdrucks und einen journalistischen Stil, der an einige von Hemingways gelungeneren Geschichten erinnert. Fittkos Werk ist eine Mischung aus dokumentarischer Reportage und Beschreibung mit integrierten Dialogen.

 

      Fast ein halbes Jahrhundert nachdem ihr die deutsche Staatsbürgerschaft durch das nationalsozialistische Regime entzogen worden war, erhielt Lisa Fittko am 25. Juni 1986 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Lisa Fittko schrieb einen Brief an den Bundespräsidenten Weizsäcker, in dem sie sich für die Auszeichnung bedankte, aber auch die mangelnde Information über die deutsche Widerstandsbewegung insgesamt und deren fehlende Anerkennung anprangerte. Eine englische Übersetzung dieses Briefes ist der 1993 erschienenen englischen Ausgabe von Solidarität unerwünscht als Nachwort beigefügt22.

Lisa Fittko wurde mit vielen Auszeichnungen und Ehrungen für ihre Arbeit und ihr schriftstellerisches Werk bedacht. Sie war stets gerne bereit, Interviews zu geben und öffentliche Vorträge zu halten, Schulen zu besuchen und sich an Gremien und städtischen sowie nationalen Veranstaltungen zu beteiligen, wie beispielsweise an der Varian Fry Ausstellung in Chicago im Jahr 1999; auch an Veranstaltungen im Ausland nahm und nimmt sie noch immer teil, soweit dies ihre Gesundheit zulässt. Im Mai 1994 war sie Ehrengast bei der Feier zur Einweihung des Denkmals, das zu Ehren Walter Benjamins durch den israelischen Bildhauer Danny Karavan errichtet worden war und den Titel «Passagen» erhalten hatte (25. Juni 1986)23.

 

Zwei Filme porträtieren Lisa Fittkos Leben24, und eine dritte abendfüllende Dokumentation wird derzeit produziert25. Ein vierstündiges Interview, das im Rahmen des Steven Spielberg Shoah Projekts durchgeführt worden war, wurde im Januar 1999 fertiggestellt26. Zu Ehren ihres neunzigsten Geburtstags erklärte der Bürgermeister von Chicago den 30. August 1999 zum Lisa Fittko-Tag, und das Repräsentantenhaus des Staates Illinois verlieh ihr das Certificate of Recognition.

 

Zur Zeit lernt Lisa Fittko im Alter von einundneunzig Jahren auf einem neuen Computer, der speziell auf ihre Sehschwäche und ihr eingeschränktes Hörvermögen abgestimmt ist, mit dem Textverarbeitungsprogramm Word for Windows umzugehen. Sie schreibt weiterhin und hält trotz gravierender gesundheitlicher Probleme immer noch öffentliche Reden. Eine ihrer zehn neueste Geschichten wurde in der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht27.

 

Übersetzt von Sandra Klefenz und Helge Sturmfels.

 

 

                                           Anmerkungen

 

 1    Die Texte liegen in folgenden Ausgaben vor: Lisa Fittko, Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41 (München/Wien: Hanser Verlag, 1985); Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41. Mit einem Vorwort von Frederik Hetmann (Ravensburg: Otto Maier Ravensburg, 1992). Mein Weg wurde als «Musterbeispiel individueller Geschichtsschreibung» bezeichnet; vgl. Veronika Maas, «Spuren des Widerstands: Lisa Fittko erinnert an ihren ‹Weg über die Pyrenäen›. Im Niemandsland der Bedrohung», Stuttgarter Nachrichten, Nr. 234, 9. Okt. 1985, Literaturbeilage, S. v; ferner als ein Buch, «das zu den wichtigsten authentischen Berichten aus einer furchtbaren Zeit gehört»; vgl. Hermann Glaser, «Pfad in die Freiheit. Auf der ‹F.-Route› nach Spanien — Lisa Fittkos Erinnerungen», Nürnberger Nachrichten, 27. Nov. 1985, S. 10 f.

 2   Lisa Fittko, La Via dei Pirenei (Roma: manifestolibri, 1999).

 3   Den Preis für das beste Politische Buch des Jahres bestimmte — am 14. Mai 1986 — die Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliotheken zum Sachthema Politische Exilliteratur in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Prix sur la Fondation FIAT-Institut de France, Académie des Sciences morales et politiques wurde Fittko am 28. August 1988 verliehen.

 4   Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften, VI, edition suhrkamp 1453 (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987), S. 14 f.

 5   Gabriele Mittag in ihrer Rezension «Nur nicht drängeln zu den Engeln. Lisa Fittkos ‹Solidarität unerwünscht›», TAZ (Berlin), Nr. 3699, 7. Mai 1992, S. 20.

 6   Solidarität unerwünscht. Meine Flucht durch Europa. Erinnerungen 1933-1940 (München/Wien: Hanser Verlag, 1992; Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag, 1994 = Fischer Taschenbuch Nr. 11819). Englische Übersetzung: Solidarity and Treason: Resistance and Exile, 1933-1940. Tr. Roslyn Theobald in collaboration with the author (Evanston: Northwestern University Press, 1993). Französische Übersetzung: Le Chemin des Pyrénées. Souvenirs 1940-1941. Trad. Léa Marcou (Paris: Martin Sel, 1987). Außerdem wurde das Buch ins Spanische, Italienische und Japanische übersetzt.

 7   Die Wage: Eine Wiener Wochenschrift, 1916-1920. Redaktion E.K. Stein, Margaretenstr. 60, Wien.Vgl. Thomas Dietzel u. Hans-Otto Hügel, Deutsche Literarische Zeitschriften 1880-1945. Ein Repertorium. Bd. 4: 2467-3341. Die Rampe — Zwölf Jahre (München/NY/ London/Paris: K.G. Saur, 1988), S. 1255 f.

 8   Die Jugendbewegung für Mädchen in Wien nannte sich Pfadfinderbewegung. Lisa Fittko war sehr an Maria Montessoris Ideen und den Kindergärten, die ihre Ideen umsetzten, interessiert. Sie arbeitete eine Zeitlang an einem Institut für blinde Kinder, wo mit diesen Methoden gearbeitet wurde.

 9   Johannes Fittko (1902-1960) war aktiver Sozialist und publizierte in Berlin als Journalist u.a. für Franz Pfemferts Die Aktion. Kurz nach der Machtübernahme erließen die Nationalsozialisten ein Gesetz, das die Todesstrafe für jeden vorsah, der als «intellektueller Urheber eines Kapitalverbrechens» angesehen wurde. Als in Berlin ein Mitglied der nationalsozialistischen Partei ermordet wurde — und zwar von anderen Nationalsozialisten, wie sich später herausstellte —, wurde dieses Verbrechen Fittko angelastet. Fittko war gezwungen, nach Prag zu fliehen, wo er erfuhr, dass er in seiner Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war.

Johannes Fittko wurde kürzlich für seine Tätigkeit im Widerstand geehrt. Am 2. Juli 2000 nahm Lisa Fittko stellvertretend für ihren Mann eine der am seltensten vergebenen jüdischen Auszeichnungen entgegen: die Yad Vashem Medaille und die Ehrenurkunde für die Gerechten unter den Völkern. Diese Auszeichnung wird Nicht-Juden für ihren tapferen Einsatz zur Rettung von Juden und für andere Widerstandstätigkeiten im Zusammenhang mit dem Holocaust verliehen. Vor einigen Jahren hatte Varian Fry als erster Amerikaner diese Ehrung erhalten. In seinem Fall nahm Warren Christopher, der damalige US-Außenminister, die Auszeichnung entgegen. Christopher nutzte die Gelegenheit, sich für die halbherzige Unterstützung, die Fry und andere Widerstandskämpfer von amerikanischer Seite aus erfuhren, zu entschuldigen.

10   Vgl. «Anmerkungen des Herausgebers: Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte», in Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhauser. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1985), Bd. V/2: Hrsg. v. Rolf Tiedemann, S. 1081-1205, bes. S. 1194.

Zwei Dramen sind erschienen, die auf der Geschichte Benjamins basieren: Christoph Hein, «Passage: Ein Kammerspiel in drei Akten» (Berlin, 1988); Craig Eisendraht u. Roberta Spivek, «The Angel of History» (unveröff. Ms., 1988). Auch ein Roman wurde auf der Grundlage von Lisa Fittkos Buch zu diesem Thema verfasst: Benjamin's Crossing: A Novel (NY: Henry Holt, 1997).


11   Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, V/2, S. 1203-1205.

12   Vgl. Briefe von Grete Freund und Henny Gurland in Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, V/2, S. 1194f.

13   Vgl. Wolfgang D. Elfe, «Das Emergency Rescue Committee», in Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. I: Kalifornien. Hrsg. John M. Spalek u. Joseph Strelka (Bern/München: Francke, 1976), S. 214-219; Anne Klein, «Conscience, Conflict and Politics. The Rescue of Political Refugees from Southern France to the United States, 1940-1942», Leo Baeck Yearbook (1998), S. 287-311; Andy Marino, A Quiet American: the Secret War of Varian Fry (NY: St. Martin's Press, 1999); Varian Fry, Surrender on Demand (NY: Random House, 1945); die deutsche Übersetzung stammt von Jan Hans u. Anja Lazarowicz: Auslieferung auf Verlangen: die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940-41. Hrsg. u. mit einem Anhang versehen von Wolfgang D. Elfe u. Jan Hans (München: Hanser Verlag, 1986). Dieses Buch enthält folgende Widmung: «Für Anna Caples und Paul Hagen [d.i. Karl Frank], die den Anstoß gegeben haben»; die französische Ausgabe: La liste noire (Paris: Plon, 1999). Es ist darauf hinzuweisen, daß die Gründung des Emergency Rescue Committee eine Selbsthilfeaktion linker Exilgruppen gewesen ist, die erst in einer zweiten Phase auch Künstler, Autoren, Wissenschaftler und Intellektuelle in ihr Rettungsprogramm einbezogen hat.

14   Varian Fry, Auslieferung auf Verlangen, S. 148 ff.

15   In diesem Zusammenhang ist auf eine Reihe noch unveröffentlichter Erzählungen Lisa Fittkos zu verweisen, die folgende Titel haben: «Charlie und Lola», «SS Colonial», «Tiscornia», «Prenatal», «The Wedding», «Brigadier», «Adria», «Nicolo und «Die Blaue Donau». Eine einzige von diesen Erzählungen «Le Grand Rabin» ist bereits veröffentlicht worden; vgl. Anm. 26.

16   Vgl. Horst Duhnke, Die KPD von 1933 bis 1945 (Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1972), S. 404.

17   Siehe Ingrid Hannich-Bode, «Autobiographien aus dem Exil. Literatur, Kunst und Musik. Eine Bibliographie», Exilforschung, Bd. XIV: Rückblick und Perspektiven (1996), S. 200-208; Ursula Seeber-Weyrer, «Autobiographisches Schreiben über das Exil heute: Lisa Fittko und andere Beispiele», in Anne Saint Sauveur-Henn (Hrsg.), Zweimal verjagt. Die deutschsprachige Emigration und der Fluchtweg Frankreich-Lateinamerika 1933-1945 (Berlin: Metropol, 1998), S. 106-118.

18   Vgl. Gabriele Kreis, Frauen im Exil. Dichtung und Wirklichkeit (Düsseldorf: claasen, 1984).

19   Vgl. Dorothea Dornhof, «Nur nicht stillschweigen müssen zu den Verbrechen seines Landes. Gespräch mit Lisa Fittko, Chicago, 14. Dezember 1992», in Exilforschung. Bd. XI: Frauen und Exil (1993), S. 229-238, hier S. 231.

20  Lisa Fittko, «‹Der alte Benjamin›. Flucht über die Pyrenäen», Merkur, XXXVI, Nr. 1/403 (Jan. 1982), S. 35-49.

21   Darauf machte Patrik von zur Mühlen auf einer Konferenz zum Thema Exil 1997 in Paris aufmerksam. Vgl. auch Patrik von zur Mühlen, Fluchtweg Spanien-Portugal. Die deutsche Emigration und der Exodus aus Europa 1933-1945 (Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., 1992), S. 50 ff.

22  Solidarity and Treason: Resistance and Exile, 1933-1940. Tr. Roslyn Theobald in collaboration with the author (Evanston: Northwestern University Press,1993).

23  Das Projekt, das 980.000 DM kostete, sollte ursprünglich vom Deutschen Bundestag finanziert werden. 1992 wurde das Projekt aber mit der Begründung eingestellt, «es sei nicht zu verantworten, eine Million in einen abgelegenen Ort mit sehr geringem Nutzwert» zu stecken. Angesichts dieser Ablehnung gelang es den Bundesländern, der katalonischen Regierung und den Gemeinden Banyuls-sur-mer und Portbou zusammen mit privaten Sponsoren, das Projekt unter der Leitung des Arbeitskreises Selbständiger Kulturinstitute (AsKI) selbst zu realisieren.

Am 15. Mai 1994 fanden die Feierlichkeiten in Portbou statt. Auf dem Friedhof oberhalb des Meers wurde das Denkmal für Benjamin, das Danny Karavan geschaffen hatte, eingeweiht. Diejenigen, die dieses Projekt möglich gemacht hatten, waren anwesend: Hans Eichel aus Hessen und Erwin Teufel aus Baden-Württemberg sowie der Präsident Kataloniens, Jordi Poujol i Soley. Karavan hatte das Denkmal gestaltet, ohne dramatisch in die Landschaft einzugreifen, indem er verschiedene Motive aufnahm, die die Hoffnungslosigkeit von Benjamins Situation und zugleich seine Gelassenheit symbolisieren sollten — ein Ölbaum, ein Zaun vor der Bucht und das tosende, weiß schäumende Wasser zu Füßen der Klippen.

Am Ende einer schmalen Treppe aus rot-grauem, rostigen Stahl befindet sich eine Glastafel als Schutz vor einem möglichen Absturz, auf der die folgenden Worte aus Benjamins Schriften eingraviert sind: «Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht» (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, I, S. 1231).

24  Das letzte Visum. Passage unbekannt (Varian Fry und das Emergency Rescue Committee). Ein Film von Karin Alles. Hessischer Rundfunk, 1987; Constanze Zahn, «Wir, sachten wir, wir ergeben uns nicht...» ( Berlin 1998).

25  «Lisa Fittko». Regisseurin: Katrin Seybold; Autorin: Catherine Stodolsky (München 2000).

26  «Interview with Lisa Fittko», Survivors of the Shoah Visual History Foundation, Jan. 1999.

27  Vgl. Lisa Fittko, «Le Grand Rabin», Sinn und Form, L, Nr. 3 (1998), S. 371-374.