LISA FITTKO | |
von | |
CATHERINE STODOLSKY | |
Im
Jahr 1985 würde Lisa Fittko`s erstes
Buch Mein Weg über die Pyrenäen in Deutschland veröffentlicht.
Die Resonanz war außerordentlich groß1, und die
deutsche Ausgabe wurde ins Französische, Englische, Spanische und
Japanische übersetzt und erst vor kurzem, 1999, auch ins Italienische2.
1986 wurde Fittkos Veröffentlichung zum besten politischen Buch des
Jahres erklärt, und 1988 gewann das Buch den Preis der Fondation
FIAT-Institut de France3. Bereits 1987, anläßlich der
Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, hatte Jürgen Habermas über
Fittkos Buch erklärt: «Es gibt gewisse Bücher, auch heute noch, ...
hinter denen eine der Weißen Rose würdige Lebensge-schichte steht.
Lisa Fittkos Erinnerungen an die Jahre 1940/41 sind von dieser Art4.» Mein
Weg
ist eine Autobiographie, in der die Autorin ihre Erfahrungen in den
Jahren zwischen 1940 und 1941 nach der Niederlage Frankreichs
beschreibt. Sie lebte damals als deutsche Emigrantin bereits in
Frankreich, und die Angst vor dem Vorrücken der Nationalsozialisten
bildet den Hintergrund der Schilderungen, in denen sie ihre eigenen
und die Exil-Erfahrungen ihrer Schicksalsgenossen mit den französischen
Behörden darstellte, die sie zu feindlichen Ausländern erklärt
hatten. Obwohl Fittko das Buch erst fast fünfzig Jahre nach diesen
Ereignissen verfaßt hatte, beschreibt sie die chaotische Lage im
besiegten Frankreich und die Atmo-sphäre aus Gefahr und Verfolgung
auf erstaunlich unmittelbare und dennoch nüchterne Weise. Die
Schilderung des Exils in Frankreich und der am Ende erfolgreichen
Flucht und Schiffspassage ist noch ein umfangreicheres Kapitel mit
Eintragungen «Aus verschiedenen Aufzeichnungen» angeschlossen (Mein
Weg, S. 263-281). Nach
dem Erfolg dieses, ihres ersten Buches, das von einer Journalistin als
«Renner der Exilbiographik»5 bezeichnet wurde, drängte
der Verleger auf einen zweiten Memoirenband, der unter dem Titel Solidarität
unerwünscht. Meine Flucht durch Europa aber erst sieben Jahre später
erscheinen konnte. Er beschreibt die Vorgeschichte jener Exiljahre in
Frankreich, die Fittko in Mein Weg dargestellt hatte und
beginnt mit Fittkos Leben nach 1933 im Berliner Untergrund. Dabei
liegt das Hauptgewicht auf den Widerstandsaktivitäten der
linken Gruppen, denen sie nahestand. Daneben schildert das Buch ihre
Flucht von Deutschland nach Prag und ihre Tätigkeit im Widerstand in
der Tschechoslowakei und der Schweiz sowie in Holland und Frankreich.
Auch dieser Band wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und beide
Werke erlebten eine Neuauflage als Taschenbuch in deutscher und
englischer Sprache und sind derzeit vergriffen; Neuauflagen sind
jedoch bereits geplant6.
Lisa Fittko kam 1909 als Elizabeth Ekstein in Uzgohrod, einer
kleinen Stadt an der östlichen Grenze der österreichisch-ungarischen
Monarchie, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion gehörte und
in der heutigen Ukraine liegt, zur Welt. Die Familie, die aus
deutschsprachigem, böhmischem Judentum stammte und deren Vorfahren
sich immer schon als bürgerliche Intellektuelle verstanden hatten,
zog nach Wien, wo Lisa Fittkos Vater Ignaz während und nach dem
Ersten Weltkrieg eine literarische Antikriegszeitschrift Die Waage
zuerst von 1916-1918 mitherausgab und anschließend von 1918-1920 als
Herausgeber zugleich auch deren Besitzer war. 1918 wurde die
Zeitschrift Wage! genannt, um damit der Begeisterung des
revolutionären Augenblicks Ausdruck zu verleihen7. Nachdem
die Familienersparnisse für dieses idealistische Projekt aufgebraucht
waren, zogen die Eksteins 1922 nach Berlin, wo Ignaz eine Tätigkeit
im Import-Export-Handel aufnahm und nicht mehr direkt aktiv mit
Politik zu tun hatte. Dennoch hatte das linke intellektuelle und
politische Umfeld, in dem Lisa Fittko in Berlin und Wien aufwuchs,
starken Einfluss
auf sie. Ihr frühes Interesse an der Pfadfinderbewegung in Wien,
insbesondere an den fortschrittlichen pädagogischen Bewegungen
(Montessori), wandelte sich in den späten zwanziger und frühen dreißiger
Jahren zu einem kämpferischen Engagement, mit dem sie sich auch an
den politischen Kämpfen in Berlin beteiligte8. Als
Mitglied einer linken Jugendgruppe nahm Fittko schon früh an
Demon-strationen teil und war später auch bei Straßenkämpfen aktiv,
in denen sich linke und rechte Parteigänger schon Jahre vor 1933
militant gegenüberstanden. Wie wir aus ihrem zweiten Buch Solidarität
unerwünscht erfahren, war sie bei den Ereignissen, die sich während
der Machtübernahme der Nationalsozialisten in den Straßen Berlins
abspielten, nicht nur Zeugin, sondern aktive Teilnehmerin. Das Buch
folgt dem Verlauf der Ereignisse der nationalsozialistischen «Revolution»
chronologisch: der nationalsozialistische Fackelumzug am Tag der
Machtergreifung und die wichtigsten Etappen dieser Chronologie lauten:
der Reichstagsbrand, der Boykott jüdischer Läden, die nächtlichen
Verhaftungen. Fittko schildert ihr Leben in der Illegalität, im
Niemandsland. Sie wohnt hinter einem Süßwarenladen, wo sie Flugblätter
tippt, die zum Sturz des Regimes aufrufen, während der Phonograph in
voller Lautstärke Aida spielt. Das
Buch handelt ferner von den alltäglichen Problemen, die sich aus
einem Leben im Untergrund ergeben. Es wird geschildert, wie man lernt,
sich ganz im geheimen mit der Bedrohung der Denunziation im Nacken zu
bewegen, wie man sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, damit
Zeitungsartikel und Flugblätter veröffentlicht und verteilt werden können.
Der Leser erfährt, wie die jungen Leute ein Netzwerk errichteten, wie
sie von der Gestapo bespitzelt wurden und wie schließlich ein
Mitglied nach dem anderen gefangengenommen wurde. Lisa
Fittkos Eltern flohen sofort nach Hitlers Machtübernahme zuerst in
die Tschechoslowakei, dann nach Wien, wo sie längere Zeit lebten, und
dann nach Frankreich, wo sie die deutsche Besatzung überlebten. Lisa
selbst dagegen war entschlossen zu bleiben und Widerstand zu leisten.
Ihre Eltern ließen alles hinter sich mit der Begründung, sie könnten
nicht in einem Land leben, das Juden offiziell boykottierte. Doch Lisa
Fittko weigerte sich, Deutschland zu verlassen; ihre Entscheidung zu
bleiben spiegelt den Optimismus der jungen Linken wider, die daran
glaubte, daß sich die Masse der Deutschen davon überzeugen ließe,
der Machtübernahme der Nationalsozialisten Widerstand
entgegenzusetzen. Erst als ihr unmittelbare Gefahr drohte, fühlte sie
sich gezwungen, über die tschechische Grenze zu flüchten. Sie war
damals vierundzwanzig Jahre alt. In
Prag machte Lisa Fittko sogleich die Erfahrung, was es bedeutete, ein
Leben als Emigrantin zu führen. Sie beschreibt dieses Leben, das
darin bestand, Suppen-küchen ausfindig zu machen und neue Freunde und
Liebhaber zu finden. Die Geschichten, die sie davon erzählt, handeln
von Solidarität, aber auch von Betrug; sie beschreiben das Existieren
im Exil, das Heimweh, die Atmosphäre der Entfremdung, aber auch so
exaltierte Künstlertreffen wie im Kreis um John Heartfield (Mein
Weg, S. 11). Einige zerbrechen daran, einer begeht sogar
Selbstmord. Dennoch halten Lisa Fittko und ihre Freunde an ihrem
unerschütterlichen Glauben fest, dass
die nationalsozialistische Diktatur nicht von Dauer sein könne und dass
die Fortsetzung des politischen Widerstandes und des Kontakts mit den
in der Heimat verbliebenen Freunden sehr wichtig sei. In Prag begegnet
Lisa Fittko ihrem zukünftigen Ehemann Hans9, und wenige
Monate später verlassen beide die Tschechoslowakei. Fittko hatte an
der deutsch-tschechischen Grenze Widerstandsaktivitäten organisiert
und die deutschen Behörden darauf die Tschechoslowakei unter Druck gesetzt,
die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Nachdem daher
Fittko aus der Tschechoslowakei ausgewiesen wurde, entschloss
sich Lisa mit ihm zusammen das erste Land, in dem sie nach ihrer
Flucht aus Deutschland Aufnahme gefunden hatte, zu verlassen. Die
nächste Station ihres gemeinsamen Exils wurde deswegen Basel, wo es
das strategisch günstig gelegene deutsch-schweizerisch-französische
Ländereck möglich machte, in regelmäßigen Abständen illegal
Literatur nach Deutschland zu senden. Dort sammelten sie auch
Informationen aus Deutschland, die sie in ihren
informationspolitischen Broschüren verwerten konnten. Auch hier
bekamen sie Unterstützung durch Einzelpersonen, doch wurden sie
schließlich von den Behörden verraten, indem die Schweiz einem
Auslieferungsbegehren seitens der Gestapo bereitwillig stattgegeben
hatte; doch konnten sie sich dem Zugriff der Behörden rechtzeitig
entziehen und ihre Widerstandsarbeit von der Schweiz nach Holland
verlegen. Das
Buch berichtet davon ausführlich. Diesmal leisteten sie ihre Arbeit
von Holland aus und nutzten die Nähe der deutschen Grenze zur
illegalen Informationspolitik in Deutschland. Publikationen wurden über
die Grenze ins Reich geschmuggelt, das sie
immer noch als ihr Zuhause bezeichneten. Ihr Ziel war es, Kontakte
aufrechtzuerhalten, den Mut nicht sinken zu lassen und die
Hitler-Diktatur zu bekämpfen. Als einige ihrer Kontaktpersonen aber
jenseits der Grenze verhaftet wurden, mussten
die Fittkos auch Holland verlassen. In
Paris, der Metropole der Emigration, trafen Lisa und Hans Fittko im
Unterschied zu den meisten anderen Exilanten erst relativ spät ein
und hatten daher mit mehr Problemen zu kämpfen als diejenigen, die
bereits früher dort angekommen waren. Zwar war die Wiederzusammenführung
der Familie ein aufmunterndes Erlebnis, doch wurden diese positiven
Aspekte von finanziellen Sorgen und der beengten Situation in den
Unterkünften überschattet. Auch die politischen Zwistigkeiten unter
den linken Splittergruppen setzten sich fort. Dazu machten die Fittkos
die typischen Exil-Erfahrungen, wenn sie von einer Unterkunft zur nächsten
ziehen und sich mit Gelegenheits-Jobs über Wasser halten mussten,
sofern sie überhaupt Arbeit finden konnten. Gelegenheit zum
Widerstand gab es kaum, doch bat man Hans Fittko schließlich, für
den staatlichen Radiosender zu schreiben, der Sendungen für die
feindlichen Truppen ausstrahlte. Somit war es ihm möglich, deutsche
Soldaten über die herannahenden Schrecken des Krieges und den
national-sozialistischen Terror aufzuklären. Fittko vermittelt die
Anspannung, Angst und Ungewissheit
der Situation und schildert die verschiedensten Reaktionen
seitens
der französischen Bevölkerung. Manche halfen, einige hatte man zu fürchten.
Man musste
immer auf der Hut sein, nicht etwa wohlmeinende Mitmenschen in Gefahr
zu bringen. Das Überleben war nur dank der Hilfe derer in Frankreich
möglich, «deren Menschlichkeit ihnen den Mut gab, diese vertriebenen
Fremden aufzunehmen, zu verstecken, zu ernähren» (Mein Weg,
S. 99 f.). Als
mit Ausbruch des Krieges Frankreich deutsche und österreichische
Emigranten internierte und dabei Männer und Frauen auf getrennte
Sammelplätze verteilte, wurden auch Lisa Fittko und ihr Mann getrennt
und später in den unbesetzten südlichen Teil von Frankreich
deportiert, Lisa nach Gurs, in das Frauenlager zu Füßen der Pyrenäen,
und Hans nach Vernuche. Die Beschreibung des Lebens der Frauen in Gurs
ist einer der besten erhaltenen Augenzeugenberichte. Geschildert wird
dabei, wie die Frauen allmählich in der Lage waren, die Dinge in die
eigenen Hände zu nehmen und in ihrem Unglück eine Art menschlicher
und intellektueller Solidaritätsgemeinschaft zu schaffen. Einige
Frauen zögerten, die Möglichkeit einer Flucht aus diesem «Konzentrationslager»
zu erwägen, da sie Angst davor hatten, draußen ganz alleine
dazustehen. Doch Lisa Fittko wagte es zusammen mit einer Gruppe von
Inhaftierten, das Lager zu verlassen, und sich durch das chaotische
Frankreich der Vichy-Regierung an die französische Grenze zu kämpfen.
Fittko gibt Einblick in das Labyrinth der Bürokratie und schildert,
wie verschiedenste Ausweispapiere, etwa abgelaufene oder gefälschte
Dokumente, Aus-, Einreise- oder Transitvisa, für die flüchtenden
Emigranten lebenswichtig werden konnten, und welche Konsequenzen es
hatte, keine Arbeitspapiere oder Bezugsscheine zu besitzen. Mit großer
Bescheidenheit beschreibt sie den Einfallsreichtum, der nötig war, um
Menschen aus den Fängen der Gestapo zu retten. Ein
zentraler Teil von Mein Weg handelt davon, wie Fittko eine
geheime Route zur Überquerung der spanischen Grenze ausarbeitete und
es den gefährdeten Flüchtlingen dadurch ermöglichte, das neutrale
Portugal und damit die Schiffe zu erreichen, die zwischen 1940 und
1941 nach Nord- und Südamerika fuhren. Nach Artikel 19 des
Waffenstillstandsabkommens, das von der neu eingesetzten französischen
Regierung unter Marschall Pétain unterzeichnet worden war, konnten
Ausländer auf französischem Boden auf Verlangen dem
nationalsozialistischen Regime ausgeliefert werden. Anstatt mit ihren
wertvollen portugiesischen Papie-ren ins Ausland zu fliehen, übernahmen
Lisa Fittko und ihr Mann — beide ohne Pässe und er auf der Liste
der Gestapo — die Aufgabe, anderen in Gefahr zu helfen. Der
Fluchtweg, ein ehemaliger Schmugglerpfad, den der republikanische
General Lister dazu benutzt hatte, seine besiegten Truppen aus Spanien
herauszubekommen, wurde Fittko von dem sozialistischen Bürgermeister
der kleinen Grenzstadt Banyuls-sur-mer aufgezeichnet. Lisa Fittko und
ihr Mann verbrachten sieben Monate damit, Gruppen von drei bis vier
Personen, darunter mehr und weniger Prominente, Juden und politische
Aktivisten, bis zu dreimal pro Woche von Banyuls aus zur spanischen
Grenze zu bringen. Als Ausländern gegen Ende des Jahres 1941 das
Betreten der Grenzregion untersagt wurde, begannen die Fittkos, ihre
eigene Flucht vorzubereiten. Unter
den Emigranten, die aus Frankreich nach Spanien fliehen wollten, war
Walter Benjamin nicht zuletzt infolge des tödlichen Ausgangs seiner
Flucht, auch rückblickend der bekannteste, dem die Fittkos damals
begegnet sind. Die detaillierte und bewegende Geschichte von Walter
Benjamins Flucht über die Berge bildet daher auch den Kern des Buches
Mein Weg. Lisa Fittko erzählt von Benjamin und einer Tasche,
die, wie er zu verstehen gab, für ihn wichtiger war als sein Leben.
Heute nimmt man an, daß sich Benjamins letztes Manuskript in der
Tasche befand, von dem eine Kopie in Paris
erhalten ist10. Der jungen Aktivistin erschien «der alte
Benjamin» (er war achtundvierzig Jahre alt) als ein in dieser
Situation völlig deplazierter Kavalier der alten Schule. Er schien
keine der Eigenschaften mitzubringen, die für das Überleben dringend
notwendig waren (d.h. die Fähigkeit des «se débrouiller», sich aus
der Klemme helfen zu können). Wie
die meisten anderen deutschen Flüchtlinge war Benjamin nach Marseille
gekommen, um einen Weg aus der Falle zu finden, die Frankreich
inzwischen für die meisten von ihnen zu werden drohte. Im September
des Jahres 1940 lief er Hans Fittko auf der Canebière über den Weg
(das Nachrichtennetzwerk der Flüchtlinge funktionierte inmitten des
Chaos im besetzten Frankreich erstaunlich zuverlässig); die beiden
kannten sich aus dem französischen Internierungslager und von den
Exiljahren her, die sie in dem Gebäude mit der Hausnummer 10 in der
Rue Dombasle in Paris verbracht hatten, wo die Eksteins und Benjamin
Wohnungen gemietet hatten. Hans Fittko erzählte, daß seine Frau Lisa
sich derzeit in der Nähe der französisch-spanischen Grenze
aufhielte, um Wege zu erkunden, auf denen man aus Frankreich ausreisen
konnte. Es war der September des Jahres 1940, und Lisa Fittko war in
Port Vendres nahe der Grenze in den Pyrenäen, um Fluchtmöglichkeiten
für sich, ihre Schwägerin und deren Baby auszukundschaften. Als
Benjamin in Port Vendres eintraf, erklärte Lisa Fittko sich damit
einverstanden, ihn mit über die Berge zu nehmen; das wurde die erste
Testüberquerung. Sie
beschreibt diese Episode in Mein Weg, und als Benjamin zum
ersten Mal an die Tür ihrer Unterkunft in dem Bergdorf klopfte,
stellte er sich folgendermaßen vor: «Gnädige
Frau», sagte er, «entschuldigen Sie bitte die Störung, hoffentlich
komme ich nicht ungelegen.» Die
Welt gerät aus den Fugen, dachte ich, aber Benjamins Höflichkeit ist
unerschütterlich. «Ihr
Herr Gemahl», fuhr er fort, «hat mir erklärt, wie ich Sie finden
kann. Er sagte, Sie würden mich über die Grenze nach Spanien
bringen.» (Mein Weg, S. 129) Fittko
beschreibt anschließend, wie sich Benjamin, der, wie er erwähnte,
Probleme mit dem Herzen hatte, für die Überquerung eine spezielle
Strategie zurechtlegte: Benjamin
wanderte langsam und gleichmäßig. In regelmäßigen Abständen —
ich glaube, es waren zehn Minuten — machte er Halt und ruhte sich für
etwa eine Minute aus. Dann ging er in demselben gleichmäßigen
Schritt weiter. Er hatte sich das, wie er mir erzählte, während der
Nacht überlegt und ausgerechnet: «Mit dieser Methode werde ich es
bis zum Ende schaffen. Ich mache in regelmäßigen Abständen Halt —
die Pause muss
ich machen, bevor ich erschöpft bin. Man darf sich nie völlig
verausgaben.» Was
für ein merkwürdiger Mensch, dachte ich. Kristallklares Denken, eine
unbeugsame innere Kraft, und dabei ein hoffnungsloser Tollpatsch...
ich erinnere mich, dass
wir alle recht guter Stimmung waren und uns hin und wieder ein wenig
unterhielten. Meistens sprachen wir über die Probleme des
Augenblicks: die glatten Felswege, die wärmende Sonne, und wie weit
es wohl noch bis zur Grenze war. Heute...
werde ich manchmal gefragt: Was hat er über das Manuskript gesagt?
Hat er sich über den Inhalt ausgelassen? Hat er darin ein neues
philosophisches System entwickelt? Du
lieber Himmel, ich hatte alle Hände voll zu tun, meine kleine Gruppe
bergauf zu führen; die Philosophie musste
warten, bis wir über den Berg waren. Es kam darauf an, einige
Menschen vor den Nazis zu retten, und da war ich nun mit diesem
komischen Kauz, dem alten Benjamin, der sich unter keinen Umständen
von seinem Ballast, von dieser schwarzen Ledertasche trennen würde.
So mussten
wir das Monstrum wohl oder übel über das Gebirge schleppen (Mein
Weg, S. 137 f.). Das
tragische Ende der Geschichte ist bekannt: Die spanischen Grenzwachen
in Port Bou erklärten den Flüchtlingen, dass
sich die Bestimmungen wieder geändert hätten, und aus Angst, zurückgeschickt
zu werden, nahm sich Benjamin das Leben. Sein Manuskript wurde nie
gefunden11. Die Tatsache, dass
diejenigen, die zusammen mit Benjamin das Gebirge überquert hatten,
in Spanien bleiben durften und spätere Flüchtlinge ebenfalls
erfolgreich die Grenze passieren konnten, zeigt, dass
solche «neuen Bestimmungen» nicht unbedingt unumgänglich waren:
Durch Geld, gutes Zureden oder Zigaretten ließen sich die Grenzwachen
umstimmen12. Soweit man weiß, war Walter Benjamin der
erste und einzige, der es über den heute als «F»-Route bekannten
Fluchtweg nicht schaffte13. Unmittelbar
nach ihrer Rückkehr und lange, bevor Benjamins Selbstmord bekannt
wurde, fand Lisa Fittko ein Telegramm vor, in dem ihr mitgeteilt
wurde, dass
sie unverzüglich nach Marseille zurückkehren müsse, um ihr
portugiesisches Visum verlängern zu lassen, das praktisch das einzig
legale Dokument war, das sie besaß. Bei ihrer Ankunft in Marseille
erfuhr sie von Hans, dass
am selben Abend ein Treffen mit Varian Fry, dem amerikanischen Repräsentanten
des Emergency Rescue Committee, verabredet war. Fry
beschreibt in seinen Memoiren (die auch ins Deutsche und Französische
übersetzt wurden), wie er mit Geld und einer Liste mit ungefähr 200
Personen nach Marseille kam; auf der Liste waren die Namen von
politischen Kämpfern, Künstlern und Intellektuellen verzeichnet, die
aus Hitlers Europa fliehen mussten
und für die er amerikanische Visa besorgen konnte. Die Aufgabe
gestaltete sich jedoch sehr viel schwieriger, als er angenommen hatte.
Frys Mitarbeiter Albert Hirschmann kam schließlich auf die Idee, dass
die Mitwirkung von Hans und Lisa Fittko hilfreich sein könnte. Ihm
war bewusst,
dass
ein effektiver Fluchtweg notwendig war. Wahrscheinlich war ihm zu
Ohren gekommen, dass
Lisa Fittko Benjamin auf einer neuen Route begleitet hatte. Auch Frank
Bohn, Mitglied der American Federation of Labor, nahm an dem Treffen
teil. Das Ehepaar Fittko drängte darauf, ein organisiertes System mit
ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen aufzubauen; Voraussetzung hierfür
wäre die Stationierung einer Person an der Grenze gewesen, die die Flüchtlinge
hinüberführen würde. Es war keineswegs ihre Absicht, diese Rolle
selbst zu übernehmen, doch auf Frys Drängen hin entschieden sie,
ihre eigenen Fluchtpläne für einige Wochen aufzuschieben. Diese
Wochen weiteten sich schließlich auf einen Zeitraum von mehr als
sieben Monaten aus, und dieses organisierte System, das darin bestand,
Menschen in Gefahr zu Fuß über die Pyrenäen zu bringen, wurde in
Varian Frys Memoiren, die 1942 verfasst,
doch erst 1945 veröffentlicht wurden, als «F»-Route betitelt. Er
benutzte nur den Anfangsbuchstaben «F» und nicht den Namen Fittko,
um die Familie zu schützen14. Als
im April 1941 alle Rettungsaktionen an der französisch-spanischen
Grenze dadurch vereitelt wurden, dass
die Franzosen auf Anweisungen aus Deutschland hin allen, die keine gebürtigen
Franzosen waren, den Aufenthalt in der Grenzregion untersagten, nahmen
Lisa und Hans Fittko Varian Frys Angebot einer Überfahrt nach Kuba
an. Die beiden kamen mit dem Schiff SS Colonial zehn Tage vor
dem Angriff auf Pearl Harbor (Ende November) in Kuba an. Die
Jahre in Havanna tauchen in Lisa Fittkos Schriften bislang nur am
Rande auf, obwohl sie in einer Reihe von Kurzgeschichten, mit denen
sie sich erst neuerdings beschäftigt hat, auch Erinnerungen an ihren
Exil-Aufenthalt in Kuba verarbeitet15, und schon in Mein
Weg über die Pyrenäen hatte sie vom Jahr 1942 an datierte
Eintragungen «Aus dem kubanischen Tagebuch» veröffentlicht (Mein
Weg, S. 268 ff.). Die wenigen Abschnitte, die aus diesem Tagebuch
überliefert sind, enthalten aber keine weiteren Aufschlüsse über
politische Aktivitäten, die das Exil des Ehepaars Fittko bis zu ihrer
Flucht aus Frankreich immer wieder mit neuen Aufgaben erfüllt hatte.
Hans Fittkos Plan, zusammen mit Fritz Lamm eine Exilzeitschrift
erscheinen zu lassen, konnte infolge seiner beginnenden Krankheit
nicht realisiert werden, ebenso wenig wie sein Versuch, mit der
kubanischen Filiale der Bewegung Freies Deutschland in Verbindung zu
treten, die allerdings in Kuba in «anscheinend größere
Auseinandersetzungen mit den in Havanna anwesenden ... früheren
Parteiführern Brandler und Thalheimer»16 verstrickt war.
Aus den Erzählungen, in denen Fittko ihr Kuba-Erlebnis
gestaltet hat, stellt sich das kubanische Exil als eine weitere
Periode der Hoffnung und Enttäuschung dar, doch auch der Solidarität,
des Wartens auf die Rückkehr «nach Hause», während man ein
schwieriges Dasein inmitten von Korruption und Intrige zu bewältigen
hatte. Fittko und ihr Mann planten anfänglich noch, von Kuba direkt
nach Deutschland zurückzukehren; dies wurde jedoch verunmöglicht,
weil der Weg zurück nur über die USA geführt hätte und die USA
politischen Flüchtlingen zwar die Einreise und einen Asylaufenthalt,
nicht aber die Durchreise nach Europa gestattet hätten. 1948 fand das
Exil der Fittkos auf Kuba aber ein Ende; Lisa und ihr Mann Hans Fittko,
mit dem sie sich erst jetzt legal verheiratete, reisten damals in die
USA, und ließen sich nicht, wie sie zunächst geplant hatten, in New
York nieder, sondern in Chicago, denn dort konnten sich auch Lisa
Fittkos Eltern niederlassen, die, bis zum Kriegsende in Frankreich
untergetaucht, die Zeit der deutschen Besetzung in Frankreich überlebt
hatten, und in Chicago lebt Lisa Fittko heute noch. Die Entscheidung,
nicht nach Deutschland zurückzukehren, was eigentlich immer ihr Ziel
gewesen war, beruhte hauptsächlich auf der Sorge ihres Mannes, dass
ihm als Journalist in einem der beiden Teile Deutschlands nicht die
politische Freiheit zugebilligt werden könnte, das zu schreiben, was
er schreiben wolle. Eine schwere Krankheit hinderte ihn darüber
hinaus daran, eine Karriere in Amerika aufzubauen; er starb bereits im
Jahr 1960.
Lisa Fittko begann erst nach ihrer Versetzung in den Ruhestand
mit dem Schreiben. Sie war ihr ganzes Leben lang berufstätig gewesen
und hatte in vier verschiedenen Sprachen gearbeitet. Im Exil, noch vor
ihrer Flucht aus Europa, in Kuba und Chicago, war sie als Sekretärin,
Stenographin, Übersetzerin und Büroleiterin tätig. Sie wurde zur
Hauptfamilienversorgerin vor allem, als ihr Mann erkrankte und ihre
betagten Eltern 1949 aus Frankreich nach Chicago übersiedelten. Sie
hatte wenig Zeit für Politik oder das Schreiben über ihre
Vergangenheit, jedoch begann sie sich zur Zeit des Vietnamkriegs für
die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in Chicago zu engagieren, und
obwohl sie erst mehr als vierzig Jahre nach den von ihr geschilderten
Ereignissen zu schreiben anfing, gelang es ihr dennoch, die
spannungsreiche Atmosphäre der Zeit einzufangen. Dass
Lisa Fittko nicht nur zum Schreiben kam, sondern schließlich auch
ihre Erinnerungen publizierte, hatte folgende Ursache. Als nämlich
ihre Nichte, die Verfasserin des vorliegenden Aufsatzes, 1979-1980 mit
ihrem Mann ein akademisches Jahr an der Stanford University in
Kalifornien verbrachte und mit dem dort gerade unterrichtenden
Gastprofessor Chimon Abramsky der University of London in Kontakt
gekommen war, erzählte Lisa Fittko in Abramskys Anwesenheit eines
Tages die Geschichte, wie sie Walter Benjamin über die Pyrenäen
begleitet hatte. Als sie die schwere Tasche erwähnte, auf die
Benjamin mehrmals hingewiesen hatte und die für ihn wichtiger als
sein Leben gewesen sei, überlegte Abramsky, ob der Inhalt dieser
Tasche tatsächlich so bedeutend sein könne, dass
man sich darüber noch Gedanken machen müßte. Er setzte sich daher
sofort mit seinem Freund und Benjamins ehemaligem
Vertrautem, Gershom
Scholem, in Verbindung, und kurze Zeit später meldete sich Scholem
bei Fittko. Die Geschichte von Lisa Fittkos erster Überquerung der
Pyrenäen wurde zu einer bedeutenden Neuigkeit. Der Suhrkamp-Verlag
entsandte Mitarbeiter an die französisch-spanische Grenze, die nach
der verschwundenen Tasche suchen sollten und nach einem etwaigen
Manuskript, das der Inhalt dieser Tasche gewesen sein könnte. Scholem
besprach die Einzelheiten mit Fittko telefonisch, während seine Frau
die Geschichte nebenbei auf Hebräisch stenographierte, und er fragte,
ob er die Geschichte veröffentlichen dürfte. Lisa Fittko lehnte dies
ab und entschied sich dafür, die Geschichte eigenhändig
niederzuschreiben. So begann ihre schriftstellerische Karriere. Sie
stellte Kontakt mit Michael Krüger vom Hanser Verlag her, der das
Buch 1985 publizierte, und Christoph Buchwald, der ihr Lektor werden
sollte, hatte entscheidenden Einfluss
auf die endgültige Struktur des Buchs. Fittkos
Erinnerungen an ihr Exil erschienen in einer Zeit, in der die Zahl der
veröffentlichten Exilautobiographien rapide zugenommen hat. Die in
Deutschland in den etwa zwanzig Jahren zwischen 1976 und 1995
erschienenen Bücher aus diesem Umfeld erreichten eine Anzahl, die
derjenigen der in den vorangegangenen dreißig Jahren publizierten
Werke dieser Art entsprach17. Außerdem
verstärkte sich das Interesse an Fittkos Werk noch infolge der
Tatsache, dass
Frauen, abgesehen von bedeutenden Romanautorinnen wie beispielsweise
Anna Seghers oder Vicky Baum, damals gerade erst begannen, ihre eigene
Sichtweise der Flucht und des Exils zu Papier zu bringen. Die
Frauenbewegung hatte in vielen das Interesse an den Lebensgeschichten
ihrer eigenen Mütter geweckt. Außerdem hatte die Welle an Interesse
für «Alltagsgeschichte» und münd-lich überlieferter Geschichte
dazu beigetragen, ein neues Publikum für Memoiren-literatur zu
schaffen. Zuvor waren viele Geschichten von Frauen in dem von männlichen
Erzählungen beherrschten Markt untergegangen, und nur ein Jahr vor
Fittkos erstem Buch hatte Gabriele Kreis ihre Frauen im Exil
veröffentlicht18. Es war jedoch für Fittko vor allem auch
ihre Verbindung zu Walter Benjamin, dessen Werk gerade erst von dem
gebildeten Publikum in Deutschland und Frankreich entdeckt zu werden
begann, die ihre Geschichte für Rezensenten und Kritiker der
intellektuellen Presse so besonders interessant machte. Lisa
Fittko sieht sich selbst als politische Schriftstellerin in der
Tradition ihrer linksbürgerlichen intellektuellen Vorfahren. Fragen
von politischer Bedeutung werden bei ihr so gestellt, dass
der Leser sich selbst fragt, was er oder sie an Fittkos Stelle getan hätte.
Indem sie Abschnitte in ihr Buch miteinbezieht, in denen ihre Nichte
Marlene ihr Fragen über die Bedeutung ihrer politischen Erfahrungen
stellt, scheint sie sich direkt an die nächste Generation zu wenden.
In anderen Passagen versucht sie offensichtlich, das politische Bewusstsein
des Lesers zu wecken und vereinfachten Gedankengängen und Erklärungsmustern
entgegenzuwirken, so zum Beispiel der gängigen These, dass
sich der Faschismus nur in Deutschland und nirgendwo sonst hätte
durchsetzen können. Obwohl
Lisa Fittko sich selbst hauptsächlich als politische Emigrantin
begreift, ist sie sich bewusst,
dass
sie auch wegen ihrer jüdischen Abstammung
verfolgt wurde. Fittko unterscheidet häufig zwischen
denjenigen, die wegen ihrer Religion verfolgt wurden, und denen, die
aufgrund ihrer aktiven Beteiligung an der Bekämpfung des Faschismus
und Antisemitismus bedroht waren. Auf die Frage eines Interviewers zu
diesem Thema antwortete Fittko folgendermaßen: «Ich hatte oft den
Eindruck, dass
viele jüdische Emigranten die Verfolgung als etwas Persönliches aufgefasst
haben... Ich lebte in einer anderen Welt mit meinen Freunden, die
aktiven Widerstand leisteten und die wie ich Antisemitismus und
Rassismus als eine der Erscheinungen des Faschismus betrachteten19.» Da
Fittko seit 1942 auf dem amerikanischen Kontinent lebte, begann sie,
ihre autobiographischen Schriften auf Englisch zu verfassen, und erst
als sie eine deutsche Übersetzung ihrer ersten Geschichte las, mit
der sie nicht zufrieden war (es war die Geschichte über Benjamin, die
zum ersten Mal im Merkur veröffentlicht wurde20), beschloss
sie, zum Deutsch ihrer Jugend zurückzukehren. Dies bedeutete, daß
sie, während sie in den Vereinigten Staaten schrieb, ziemlich
isoliert war. Offensichtlich erhielt sie beim Lektorieren ihrer Bücher
hauptsächlich Unterstützung von einem befreundeten amerikanischen
Autor, dem sie ihre Geschichten auf Englisch laut vorlas, indem sie
sie während des Lesens übersetzte. Obwohl
einige Rezensenten die Authentizität der Dialoge anzweifelten und über
Fittkos Fähigkeit, nach vierzig Jahren die Atmosphäre von Angst und
Panik genauestens wiedergegeben zu haben, nicht wenig überrascht
waren, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass
Historiker ihre nüchterne Schilderung der historischen Ereignisse
lobten und mehrfach die Verlässlichkeit
ihrer Berichte betonten21. In
einem Interview, das erst vor kurzem mit Lisa Fittko geführt wurde,
nannte sie Ernest Hemingway den von ihr (stilistisch, nicht
inhaltlich) am meisten bewunderten Schriftsteller. Tatsächlich stößt
man in ihrem Werk auf eine Schlichtheit in der Wahl des Ausdrucks und
einen journalistischen Stil, der an einige von Hemingways gelungeneren
Geschichten erinnert. Fittkos Werk ist eine Mischung aus
dokumentarischer Reportage und Beschreibung mit integrierten Dialogen.
Fast ein halbes Jahrhundert nachdem ihr die deutsche Staatsbürgerschaft
durch das nationalsozialistische Regime entzogen worden war, erhielt
Lisa Fittko am 25. Juni 1986 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Lisa
Fittko schrieb einen Brief an den Bundespräsidenten Weizsäcker, in
dem sie sich für die Auszeichnung bedankte, aber auch die mangelnde
Information über die deutsche Widerstandsbewegung insgesamt und deren
fehlende Anerkennung anprangerte. Eine englische Übersetzung dieses
Briefes ist der 1993 erschienenen englischen Ausgabe von Solidarität
unerwünscht als Nachwort beigefügt22. Lisa
Fittko wurde mit vielen Auszeichnungen und Ehrungen für ihre Arbeit
und ihr schriftstellerisches Werk bedacht. Sie war stets gerne bereit,
Interviews zu geben und öffentliche Vorträge zu halten, Schulen zu
besuchen und sich an Gremien und städtischen sowie nationalen
Veranstaltungen zu beteiligen, wie beispielsweise an der Varian Fry
Ausstellung in Chicago im Jahr 1999; auch an Veranstaltungen im
Ausland nahm und nimmt sie noch immer teil, soweit dies ihre
Gesundheit zulässt.
Im Mai 1994 war sie Ehrengast bei der Feier zur Einweihung des
Denkmals, das zu Ehren Walter Benjamins durch den israelischen
Bildhauer Danny Karavan errichtet worden war und den Titel «Passagen»
erhalten hatte (25. Juni 1986)23. Zwei
Filme porträtieren Lisa Fittkos Leben24, und eine dritte
abendfüllende Dokumentation wird derzeit produziert25. Ein
vierstündiges Interview, das im Rahmen des Steven Spielberg Shoah
Projekts durchgeführt worden war, wurde im Januar 1999 fertiggestellt26.
Zu Ehren ihres neunzigsten Geburtstags erklärte der Bürgermeister
von Chicago den 30. August 1999 zum Lisa Fittko-Tag, und das Repräsentantenhaus
des Staates Illinois verlieh ihr das Certificate of Recognition. Zur
Zeit lernt Lisa Fittko im Alter von einundneunzig Jahren auf einem
neuen Computer, der speziell auf ihre Sehschwäche und ihr eingeschränktes
Hörvermögen abgestimmt ist, mit dem Textverarbeitungsprogramm Word
for Windows umzugehen. Sie schreibt weiterhin und hält trotz
gravierender gesundheitlicher Probleme immer noch öffentliche Reden.
Eine ihrer zehn neueste Geschichten wurde
in der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht27. Übersetzt
von Sandra Klefenz und Helge Sturmfels.
Anmerkungen 1
Die Texte liegen in folgenden Ausgaben vor: Lisa Fittko, Mein
Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41 (München/Wien:
Hanser Verlag, 1985); Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen
1940/41. Mit einem Vorwort von Frederik Hetmann (Ravensburg: Otto
Maier Ravensburg, 1992). Mein Weg wurde als «Musterbeispiel
individueller Geschichtsschreibung» bezeichnet; vgl. Veronika Maas,
«Spuren des Widerstands: Lisa Fittko erinnert an ihren ‹Weg über
die Pyrenäen›. Im Niemandsland der Bedrohung», Stuttgarter
Nachrichten, Nr. 234, 9. Okt. 1985, Literaturbeilage, S. v; ferner
als ein Buch, «das zu den wichtigsten authentischen Berichten aus
einer furchtbaren Zeit gehört»; vgl. Hermann Glaser, «Pfad in die
Freiheit. Auf der ‹F.-Route› nach Spanien — Lisa Fittkos
Erinnerungen», Nürnberger Nachrichten, 27. Nov.
1985, S. 10 f. 2
Lisa Fittko, La Via dei Pirenei (Roma: manifestolibri,
1999). 3
Den Preis für das beste Politische Buch des Jahres bestimmte
— am 14. Mai 1986 — die Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler
und Bibliotheken zum Sachthema Politische Exilliteratur in der
Friedrich-Ebert-Stiftung. Der
Prix sur la Fondation FIAT-Institut de France, Académie des Sciences
morales et politiques wurde Fittko am 28. August
1988 verliehen. 4
Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Kleine
politische Schriften, VI, edition suhrkamp 1453 (Frankfurt/M:
Suhrkamp, 1987), S. 14 f. 5
Gabriele Mittag in ihrer Rezension «Nur nicht drängeln zu den
Engeln. Lisa Fittkos ‹Solidarität unerwünscht›», TAZ
(Berlin), Nr. 3699, 7. Mai 1992, S. 20. 6
Solidarität unerwünscht. Meine Flucht durch Europa.
Erinnerungen 1933-1940 (München/Wien: Hanser Verlag, 1992;
Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch Verlag, 1994 = Fischer Taschenbuch
Nr. 11819). Englische
Übersetzung: Solidarity and Treason: Resistance and Exile,
1933-1940. Tr. Roslyn Theobald in
collaboration with the author (Evanston: Northwestern University
Press, 1993). Französische
Übersetzung: Le Chemin des Pyrénées. Souvenirs
1940-1941.
Trad. Léa Marcou (Paris: Martin Sel, 1987). Außerdem
wurde das Buch ins Spanische, Italienische und Japanische übersetzt. 7
Die Wage: Eine Wiener Wochenschrift, 1916-1920.
Redaktion E.K. Stein, Margaretenstr. 60, Wien.Vgl. Thomas Dietzel u.
Hans-Otto Hügel, Deutsche Literarische Zeitschriften 1880-1945.
Ein Repertorium. Bd. 4: 2467-3341. Die Rampe — Zwölf Jahre
(München/NY/ London/Paris: K.G. Saur, 1988), S. 1255 f. 8
Die Jugendbewegung für Mädchen in Wien nannte sich
Pfadfinderbewegung. Lisa Fittko war sehr an Maria Montessoris Ideen
und den Kindergärten, die ihre Ideen umsetzten, interessiert. Sie
arbeitete eine Zeitlang an einem Institut für blinde Kinder, wo mit
diesen Methoden gearbeitet wurde. 9
Johannes Fittko (1902-1960) war aktiver Sozialist und
publizierte in Berlin als Journalist u.a. für Franz Pfemferts Die
Aktion. Kurz nach der Machtübernahme erließen die
Nationalsozialisten ein Gesetz, das die Todesstrafe für jeden vorsah,
der als «intellektueller Urheber eines Kapitalverbrechens» angesehen
wurde. Als in Berlin ein Mitglied der nationalsozialistischen Partei
ermordet wurde — und zwar von anderen Nationalsozialisten, wie sich
später herausstellte —, wurde dieses Verbrechen Fittko angelastet.
Fittko war gezwungen, nach Prag zu fliehen, wo er erfuhr, daß er in
seiner Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Johannes
Fittko wurde kürzlich für seine Tätigkeit im Widerstand geehrt. Am
2. Juli 2000 nahm Lisa Fittko stellvertretend für ihren Mann eine der
am seltensten vergebenen jüdischen Auszeichnungen entgegen: die Yad
Vashem Medaille und die Ehrenurkunde für die Gerechten unter den Völkern.
Diese Auszeichnung wird Nicht-Juden für ihren tapferen Einsatz zur
Rettung von Juden und für andere Widerstands-tätigkeiten
im Zusammenhang mit dem Holocaust verliehen. Vor einigen Jahren hatte
Varian Fry als erster Amerikaner diese Ehrung erhalten. In seinem Fall
nahm Warren Christopher, der damalige US-Außenminister, die
Auszeichnung entgegen. Christopher nutzte die Gelegenheit, sich für
die halbherzige Unterstützung, die Fry und andere Widerstandskämpfer
von amerikanischer Seite aus erfuhren, zu entschuldigen. 10
Vgl. «Anmerkungen des Herausgebers: Zeugnisse zur
Entstehungsgeschichte», in Walter Benjamin, Gesammelte Schriften.
Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppen-hauser. Unter Mitwirkung
v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1985),
Bd. V/2: Hrsg. v. Rolf Tiedemann, S. 1081-1205, bes. S. 1194. Zwei
Dramen sind erschienen, die auf der Geschichte Benjamins basieren:
Christoph Hein, «Passage: Ein Kammerspiel in drei Akten» (Berlin,
1988); Craig Eisendraht u. Roberta Spivek, «The Angel of History» (unveröff.
Ms., 1988). Auch ein Roman wurde auf der Grundlage von Lisa Fittkos
Buch zu diesem Thema verfaßt: Benjamin's Crossing: A Novel (NY:
Henry Holt, 1997). 11
Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, V/2, S.
1203-1205. 12
Vgl. Briefe von Grete Freund und Henny Gurland in Walter
Benjamin, Gesammelte Schriften, V/2, S. 1194f. 13
Vgl. Wolfgang D. Elfe, «Das Emergency Rescue Committee», in Deutsche
Exilliteratur seit 1933. Bd.
I: Kalifornien. Hrsg.
John M. Spalek u. Joseph Strelka (Bern/München: Francke, 1976), S.
214-219; Anne Klein, «Conscience, Conflict and Politics.
The Rescue of Political Refugees from Southern France to the United
States, 1940-1942», Leo Baeck Yearbook (1998), S. 287-311;
Andy Marino, A Quiet American: the Secret War of Varian Fry (NY:
St. Martin's Press, 1999); Varian Fry, Surrender on Demand (NY:
Random House, 1945); die deutsche Übersetzung stammt von Jan Hans u.
Anja Lazarowicz: Auslieferung auf Verlangen: die Rettung deutscher
Emigranten in Marseille 1940-41. Hrsg.
u. mit einem Anhang versehen von Wolfgang D. Elfe u. Jan Hans (München:
Hanser Verlag, 1986). Dieses Buch enthält folgende Widmung: «Für
Anna Caples und Paul Hagen [d.i. Karl Frank], die den Anstoß gegeben
haben»; die französische Ausgabe: La liste noire (Paris: Plon,
1999). Es ist darauf hinzuweisen, daß die Gründung des Emergency
Rescue Committee eine Selbsthilfeaktion linker Exilgruppen gewesen
ist, die erst in einer zweiten Phase auch Künstler, Autoren,
Wissenschaftler und Intellektuelle in ihr Rettungsprogramm einbezogen
hat. 14
Varian Fry, Auslieferung auf Verlangen, S. 148 ff. 15
In diesem Zusammenhang ist auf eine Reihe noch unveröffentlichter
Erzählungen Lisa Fittkos zu verweisen, die folgende Titel haben: «Charlie
und Lola», «SS Colonial», «Tiscornia», «Prenatal», «The
Wedding», «Brigadier», «Adria», «Nicolo und «Die Blaue Donau».
Eine einzige von diesen Erzählungen «Le Grand Rabin» ist bereits
veröffentlicht worden; vgl. Anm. 26. 16
Vgl. Horst Duhnke, Die KPD von 1933 bis 1945 (Köln:
Kiepenheuer und Witsch, 1972), S. 404. 17
Siehe Ingrid Hannich-Bode, «Autobiographien aus dem Exil.
Literatur, Kunst und Musik. Eine Bibliographie», Exilforschung,
Bd. XIV: Rückblick und Perspektiven (1996), S. 200-208; Ursula
Seeber-Weyrer, «Autobiographisches Schreiben über das Exil heute:
Lisa Fittko und andere Beispiele», in Anne Saint Sauveur-Henn
(Hrsg.), Zweimal verjagt. Die deutschsprachige Emigration und der
Fluchtweg Frankreich-Lateinamerika 1933-1945 (Berlin: Metropol,
1998), S. 106-118. 18
Vgl. Gabriele Kreis, Frauen im Exil. Dichtung und
Wirklichkeit (Düsseldorf: claasen, 1984). 19
Vgl. Dorothea Dornhof, «Nur nicht stillschweigen müssen zu
den Verbrechen seines Landes. Gespräch mit Lisa Fittko, Chicago, 14.
Dezember 1992», in Exilforschung. Bd. XI: Frauen und Exil
(1993), S. 229-238, hier S. 231. 20
Lisa Fittko, «‹Der alte Benjamin›. Flucht über die Pyrenäen»,
Merkur, XXXVI, Nr. 1/403 (Jan. 1982), S. 35-49. 21
Darauf machte Patrik von zur Mühlen auf einer Konferenz zum
Thema Exil 1997 in Paris aufmerksam. Vgl. auch Patrik von zur Mühlen,
Fluchtweg Spanien-Portugal. Die deutsche Emigration und der Exodus
aus Europa 1933-1945 (Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., 1992), S. 50 ff. 22
Solidarity and Treason: Resistance and Exile, 1933-1940.
Tr. Roslyn Theobald in collaboration with the author (Evanston:
Northwestern University Press,1993). 23
Das Projekt, das 980.000 DM kostete, sollte ursprünglich vom
Deutschen Bundestag finanziert werden. 1992 wurde das Projekt aber mit
der Begründung eingestellt, «es sei nicht zu verantworten, eine
Million in einen abgelegenen Ort mit sehr geringem Nutzwert» zu
stecken. Angesichts dieser Ablehnung gelang es den Bundesländern, der
katalonischen Regierung und den Gemeinden Banyuls-sur-mer und Portbou
zusammen mit privaten Sponsoren, das Projekt unter der Leitung des
Arbeitskreises Selbständiger Kulturinstitute (AsKI) selbst zu
realisieren. Am
15. Mai 1994 fanden die Feierlichkeiten in Portbou statt. Auf dem
Friedhof oberhalb des Meers wurde das Denkmal für Benjamin, das Danny
Karavan geschaffen hatte, eingeweiht. Diejenigen, die dieses Projekt möglich
gemacht hatten, waren anwesend: Hans Eichel aus Hessen und Erwin
Teufel aus Baden-Württemberg sowie der Präsident Kataloniens, Jordi
Poujol i Soley. Karavan hatte das Denkmal gestaltet, ohne dramatisch
in die Landschaft einzugreifen, indem er verschiedene Motive aufnahm,
die die Hoffnungslosigkeit von Benjamins Situation und zugleich seine
Gelassenheit symbolisieren sollten — ein Ölbaum, ein Zaun vor der
Bucht und das tosende, weiß schäumende Wasser zu Füßen der
Klippen. Am
Ende einer schmalen Treppe aus rot-grauem, rostigen Stahl befindet
sich eine Glastafel als Schutz vor einem möglichen Absturz, auf der
die folgenden Worte aus Benjamins Schriften eingraviert sind: «Schwerer
ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.
Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion
geweiht» (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, I, S. 1231). 24
Das letzte Visum. Passage unbekannt (Varian Fry und das
Emergency Rescue Committee). Ein Film von Karin Alles. Hessischer
Rundfunk, 1987; Constanze Zahn, «Wir, sachten wir, wir ergeben uns
nicht...» ( 25
«Lisa Fittko».
Regisseurin: Katrin Seybold; Autorin: Catherine Stodolsky (München
2000). 26
«Interview with Lisa Fittko», Survivors of the Shoah Visual
History Foundation, Jan. 1999. 27
Vgl. Lisa Fittko, «Le Grand Rabin», Sinn und Form, L,
Nr. 3 (1998), S. 371-374. |