Manuskript
BAYERISCHER
RUNDFUNK, STUDIO FRANKEN
90431 Nürnberg, Wallensteinstraße
117, Telefon 0911/65501, Fax 6550-257
Bayern2radioKultur
SENDEZEIT: Donnerstag, 06. März 2006
21.30-22.30 Uhr, Bayern2Radio
Aufnahme: 02. März 2006
AUTOR:
Renate Eichmeier
REDAKTION: Rainer Lindenmann
REGIE: Ursula Naumann
SPRECHER:
Sprin. 1: Andrea Hörnke-Triess
Sprin. 2: Anna-Maria Kuricova
Spr.
1: Helmut Winkelmann
Spr. 2: Norbert Küber
Zwischen Krieg und Liebe
Der Dichter Jehuda Amichai
von
Renate Eichmeier
Sprin. 1: Andrea Hörnke-Triess
Sprin. 2: Anna-Maria Kuricova
Spr. 1. Helmut
Winkelmann
Spr. 2: Norbert Küber
Zuspielungen O-Ton
Zuspielungen Musik
Musik 1:
Nizza Thobi, Derech shtej nekudot over rak kav jashar echad; auf:
Jiddisch is gor nischt asoj schwer, David Recors & Power Music Agency 2006,
LC 02584
Musik 2:
Yehudit Ravitz, In our love; Helicon records 1993, HL 8097 (CD)
Musik 3:
Nizza Thobi, Unter di grininke bejmelech; auf: Jiddisch is gor nischt
asoj schwer, David Recors & Power Music Agency 2006, LC 02584
Musik 4:
God save the Queen (muss noch besorgt werden!)
Musik 5:
The Israel Army Band, We build our country; auf: Marches of the Israel
Armed Forces, CBS 62949 (LP)
Musik 6:
The Israel Army Band, Our Platoon marches at night; auf: Marches of the
Israel Armed Forces, CBS 62949 (LP)
Musik 7:
Gott hat Erbarmen mit Kindergartenkindern (auf hebräisch), auf: ACUM
64162, Hed Arzi Music 1998
Musik 8:
Pessachlied; auf: Pessach Songs, For children and All the Family (MC)
CBS Records Ltd. P.O.B. 681 Tel-Aviv Israel 1976, Nr. 40 53686;
Nr. 1 (Titel nur in Hebräisch vorhanden)
Musik 9:
Schlomo Gronich, El Rachamim; auf: ACUM 64162, Hed Arzi Music 1998
O-Ton 1 Amichai
Géschem ..
Spr. 1: (drüber)
Regen auf dem Kampffeld
Regen fällt auf die Gesichter meiner Freunde.
Meiner lebenden Freunde, die
ihre Köpfe mit einer Decke bedecken –
und auf meine toten Freunde, die
das nicht tun.
Musik 1: Nizza Thobi, Derech
shtej nekudot over rak kav jashar echad [30‘‘] (Anfang, ohne Gesang)
Sprin. 1:
Zwischen Krieg und Liebe. Der Dichter Jehuda Amichai
Ein Feature von Renate Eichmeier
Musik aus.
O-Ton 2 Amichai
Dichter
werden – das ist der schlimmste Entschluss, den man machen kann als Mensch.
Wenn eines von meinen Kindern sagen würde, ich habe mich entschlossen, Dichter
zu werden, das ist furchtbar. Wenn es sagen würde, es will
Computerwissenschaftler werden oder Arzt oder Rechtsanwalt oder Schreiner oder
was - wunderbar. Aber ein Dichter zu werden, das beschließt man nicht. Ich habe
die Wörter einfach gebraucht, um irgendwie im Leben zurechtzukommen: zwischen
Krieg und Liebe.
Musik 2: Yehudit Ravitz, In our love
Sprin. 2:
(drüber) Als wir uns liebten
verwandelte sich der Körper zum Ort,
und in unserm Gedächtnis
wird die Liebe zu atmen nicht wagen.
Gleich was wir anstrebten,
die Nacht verdunstet,
was wir nicht wurden
ist jetzt ein Feld.
Vergessen und Einsammeln
was von der Vergangenheit übrig blieb,
weil die Hoffnung des Liebesakts
wird nichts retten.
Ein Busch Bougainvillea,
Zeit verwandelt sich zum Ort
in den Augen der Nacht
wird der Tag erinnert
Still werden
Haus und Wüste erinnert
weil der Liebesakt
das ist, was bleibt
Sprin. 1:
„Als wir uns liebten“ ist eines der Gedichte von Jehuda Amichai, die
vertont wurden. Die israelische Sängerin
Yehudit Ravitz singt es. Sie hat auch nach seinem Tod im Herbst 2000 auf der
Trauerfeier in Jerusalem gesungen. Menschen quer durch die weltanschaulichen
Gruppierungen Israels waren anwesend, Prominente aus Politik, Kunst und
Literatur, und noch mehr Nichtprominente. Er war und ist einer der wichtigsten
Dichter Israels: geachtet, geliebt, verehrt und auch umstritten. Zeit seines
Lebens ließ er sich nicht vereinnahmen – weder von politischen Richtungen
noch von literarischen Konventionen.
1.
O-Ton 3 BR-alpha [29‘‘]
Musik,
dann Corinna Benning Verehrte
Zuschauerinnen und Zuschauer, ich begrüße Sie herzlich zu Alpha-Forum. Unser
Gast ist heute Jehuda Amichai, einer der bedeutendsten Dichter Israels und zu
Lebzeiten schon zum Klassiker avanciert. Herr Amichai, Sie sind 1924 in Würzburg
geboren, Mitglied einer orthodoxen jüdischen Familie. Könnten Sie uns noch ...
(runterziehen)
Sprin.
1: (drüber)
Zwei Jahre vor seinem Tod gab Jehuda Amichai der Journalistin Corinna
Benning ein Interview, in dem er über sein wechselvolles Leben und seine
schriftstellerische Arbeit erzählte. Er hat Gedichte und Geschichten über
Liebe und Krieg geschrieben. Seine Bücher erschienen in über 30 Sprachen. Er
wurde mehrere Male für den Nobelpreis nominiert und ist mit vielen Preisen
ausgezeichnet worden. Er hat an Schulen und Universitäten unterrichtet, in fünf
Kriegen gekämpft und Waffen geschmuggelt, er hat geliebt – vor allem seine
zweite Frau Hana, er hat Kinder gezeugt, und er hat seinen Namen geändert,
damals zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn des Unabhängigkeits-
bzw. Befreiungskrieges 1947.
O-Ton 4 BR-alpha [57‘‘]
Corinna
Benning Sie haben in Israel einen
neuen Namen angenommen. Sie sind in Würzburg Ludwig Pfeuffer getauft worden und
haben sich dann Jehuda Amichai genannt. Wie kam es zu dieser Namensänderung?
Und der Name bedeutet „mein Volk lebt“.
Jehuda Amichai Zwischen den
beiden Kriegen, wir waren alle sehr sozialistisch und zionistisch und da haben
wir eben unsere Namen gewechselt. Es gab einige, die haben ihre Namen hebräisiert.
Aber ich habe das nicht einfach übersetzt,
sondern ich hatte eine Freundin damals, wir waren nahe am Heiraten und wir waren
beide sehr jung. Da haben wir beschlossen, einen Namen zu wählen, der auch –
Amichai, mein Volk lebt, das ist sehr sozialistisch natürlich, mein Volk, my
people live, und das hat ihrem Namen gepaßt, und natürlich zwei Monate danach
sind wir auseinander gegangen. Und ich bin mit dem Namen geblieben.
Musik 3: Nizza Thobi, Unter di
grininke bejmelech [22‘‘] (Anfang, ohne Gesang)
Sprin.
1: Zu dieser Zeit war Jehuda
Amichai schon über zehn Jahre im damaligen englischen Mandatsgebiet Palästina.
Mitte der dreißiger Jahre war der 12jährige mit seiner Schwester und seinen
Eltern aus Nazideutschland ausgewandert. Die Kinder tauchen in die bunte
Mittelmeerwelt ein, Sonne, Palmen, Zitrusplantagen. Die Familie lässt sich zunächst
in der kleinen landwirtschaftlichen Siedlung Petach Tikwa nieder. Zionistische
und sozialistische Ideen bestimmen das Zusammenleben. Euphorisch gehen die
Siedler ans Werk. Sie verstehen sich als Pioniere, wollen das Land urbar machen
und wirtschaftlich auf Vordermann bringen. Denn über Jahrhunderte hatte Palästina
als behäbige Randprovinz des Osmanischen Reiches vor sich hingedämmert.
Musik 4: God save
the Queen
Spr. 2:
1918: Großbritannien übernimmt das Mandat über Palästina und dessen
buntes Völkergemisch: Araber, Beduinen, Drusen, Armenier und Juden, die seit
Jahrhunderten hier lebten oder die im 19. Jahrhundert gekommen waren.
Sprin. 1:
20er und 30er Jahre: Unter dem Einfluß des Zionismus und der Bedrohung
durch den Nationalsozialismus nimmt die jüdische Einwanderung zu.
Musik 5: The
Israel Army Band, We build our country
Spr. 2:
Viele neue Siedlungen entstehen. Die Spannungen zwischen Juden und
Arabern steigen.
Sprin. 1:
1939: Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Spr. 2:
Die Auseinandersetzungen greifen auf den Mittelmeerraum über.
O-Ton 5 BR-alpha [1‘ 25]
Jehuda
Amichai Es war im 18. Lebensjahr,
das war 1942, habe ich mich freiwillig zur englischen Armee gemeldet. Nicht nur
ich, viele von uns, weil es die einzige Möglichkeit war, gegen die Deutschen zu
kämpfen in Nordafrika. Und dann Anfang
46 bin ich von der englischen Armee raus, und dann hatte ich noch einiges mit
Waffenschmuggel aus arabischen Ländern zu tun. Kurz danach, Ende 47, fing dann
der Befreiungskrieg an, und da war ich dann wieder bei einer ziemlich gefährlichen
Truppe im Süden. Wir waren abgeschnitten von den anderen und wir waren fast wie
eine Guerillatruppe.
Corinna Benning Diese
traumatischen Erfahrungen aus dem Krieg haben Sie dann versucht, in Gedichten zu
verarbeiten.
Jehuda Amichai Erst nachher.
Man schreibt nicht – also, ich jedenfalls glaube nicht, dass man ein Gedicht
schreiben soll, sofort, an Ort und Stelle. Journalisten können das oft. Beim
Dichter ist das Gegenteil der Fall, er muss das erst verarbeiten, entweder es
kommt oder es kommt nichts dabei raus. Im allgemeinen ist das ein langer Prozess.
Das Schöne dabei ist ja, man hat keine "deadline", man muss nicht ein
Gedicht für morgen für die Presse fertig machen. Das ist das Schöne dabei.
Musik 6:
The Israel Army Band, Our Platoon marches at night
Sprin. 1:
(drüber)
1947: Ende des britischen Protektorats. Beschluss der UNO zur Teilung Palästinas.
Spr. 2:
Einen Teil des Gebietes sollen die Juden für einen eigenen Staat
bekommen. Den anderen die Araber.
Sprin. 1:
Abzug der britischen Truppen.
Spr. 2:
Kämpfe zwischen Juden und Arabern flammen auf.
Musik (hochziehen, etwas freistehen lassen)
Sprin. 1:
14. Mai 1948. Gründung des Staates Israel.
Spr. 2:
Die arabischen Nachbarstaaten von Ägypten über Saudi-Arabien,
Jordanien, Libanon, Irak und Syrien erklären dem neuen Staat den Krieg. Der
erste israelisch-arabische Krieg bricht aus. Dieser sogenannte Befreiungs- oder
Unabhängigkeitskrieg dauert bis Juli 1949 und endet mit einem
Waffenstillstandsabkommen.
Spr. 1:
Als ich jung war, war auch das Land jung.
Und mein Vater war jedermanns Vater. Wenn
ich mich freute, freute sich das Land, wenn
ich darauf hüpfte, hüpfte es unter mir. Das Gras,
das es im Frühling bedeckte, machte auch mich
sanft, sein Boden im Sommer schmerzte mich
wie gesprungene Haut auf meinen Sohlen. Mit meiner
großen Liebe wurde auch seine Befreiung verkündet;
Als mein Haar flatterte, flatterten seine Fahnen.
Als ich kämpfte, kämpfte das Land, als ich mich erhob,
erhob es sich, und als ich sank, fing es mit mir
zu sinken an.
Sprin. 1:
Die politischen Ereignisse überschlagen sich und auch die privaten.
Amichais Jugendliebe verlässt Israel und emigriert in die USA. Später wird
Jehuda Amichai sagen, konservative Menschen dächten, es gebe nur eine große
Liebe im Leben. Er beginnt zu schreiben. 1948 erscheint sein erstes Gedicht,
1955 der erste Gedichtband. Schnell wird Jehuda Amichai bekannt. Nach dem Unabhängigkeitskrieg
heiratet er, arbeitet zuerst als Lehrer, später als Hochschullehrer für hebräische
Literatur. Neben Gedichten schreibt und veröffentlicht er Erzählungen, Hörspiele,
Theaterstücke und in den 60er Jahren schließlich einen Roman. Sein Schreiben,
so der Literaturwissenschaftler Christian Leo, spiegelte das unruhige Leben im
jungen israelischen Staat wieder.
O-Ton 6 Christian Leo [1‘40]
Er
kann sich natürlich nicht nur als Pionier in diesem ökonomischen Prozeß
feiern, der Israel zu dem modernen Staat gemacht hat, der er heute ist.
das kommt nicht von ungefähr, das kommt natürlich daher dass dieser Staat
47 gegründet ist, natürlich noch mit den kämpfen an denen jehuda amichai maßgeblich
beteiligt war, der kann sich natürlich nicht nur als pionier in diesem ökonomischen
prozess feiern, der israel zu dem modernen staat gemacht hat, der er heute ist
sondern er hat auch mit seinem leben gewissermaßen diesen staat gegründet und
verteidigt, er hat gewissenrmaßen in seinen gedichten in seinen ganzen
schriftstellerislchen aber auch lebensprozess in seiner erinnerung reift er mit
dem land. Das Land ist jünger als er, natürlich, und er erlebt von der
Pike auf an, wie sich die Geschichte dort zuträgt und wie sich die Ereignisse
überstürzen und referiert die auch wirklich sehr exakt. Und er erlebt alle Kämpfe
mit, er ist als Poet oder Dichter keineswegs geschützt, sondern immer an
vorderster Front mit dabei. Und für ihn ist schreiben natürlich keine
Angelegenheit, die erlernbar ist, sondern die gewissermaßen aus dem Leben
diktiert wird, eine Art Therapie auch, in dem er versucht, das, was er in seinem
Leben nicht in den Griff bekommt zu verschriftlichen und dadurch auch eben eine
gewisse Heilung, eine gewisse Ordnung in diese chaotische wechselvolle Leben
hineinzuführen. Und bei ihm ist es nun mal so, dass er in einer Zeit
aufgewachsen ist, die voller Brüche, Umstürze und immer wieder neuer
Anforderungen und Anstrengungen auch sich ergibt. Das fängt natürlich an mit
diesem abrupten Ende der Kindheit 36, als er dann nach Israel emigrieren musste,
in Israel - damals noch Palästina - keinesfalls ein gesichertes leben sondern
natürlich gerät das in den Konflikt des zweiten Weltkrieges und danach
entbrennt das dann erst, das große Ringen um diesen Staat und wie er sich
entwickelt, das bedeutet immer wieder Kriege, Krisen, es gibt keine planbare
Zukunft, man ist von Feinden umringt, von Arabern, die einen gewissermaßen ins
Wasser zurückwerfen wollen und die einen von der Gründung des Staates das
Lebensrecht streitig machen.
Musik 6:
The Israel Army Band, Our Platoon marches at night
Spr. 2:
(drüber) 1951 Ägypten
verwehrt allen Schiffen mit Ziel Israel die Fahrt durch den Suezkanal. Die
Israelis sind von der Erdölzufuhr aus dem Osten abgeschnitten.
Sprin. 1:
1956 Israel besetzt kurzzeitig die Sinaihalbinsel, um den Zugang zum
Suezkanal erzwingen.
Spr. 2:
1967 Sechs-Tage-Krieg.
Sprin. 1:
Die israelische Armee besetzt den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, des
Ostufer des Suezkanals, die Westbank, Ostjerusalem und die Golanhöhen.
Spr. 2:
1973 Jom-Kippur-Krieg.
Sprin. 1:
Überraschend erfolgt ein koordinierter Angriff von Syrien und Ägypten.
Jom-Kippur ist ein hoher jüdischer Feiertag. Radio und Fernsehen schweigen. An
eine Generalmobilmachung ist nicht zu denken. Erst nach vier Tagen gelingt
Israel ein Gegenangriff.
Spr. 2:
1982 Libanonkrieg
(runterziehen)
Spr. 1: /Sprin 2 (drüber)
Im Herbst brach der Krieg aus, im Niemandsland
zwischen Zitrusfrüchten und Trauben.
Der Himmel ist blau wie Venen an den Schenkeln
einer geplagten Frau. Die Wüste –
ein Spiegel für den Beschauer.
Betrübte Männer tragen die Erinnerung an
ihre Lieben im Rucksack, in der Seitentasche,
im Patronengürtel, in den Säcken der Seele,
in schweren Traumblasen unter den Augen.
[Die Oktobersonne wärmt unsere Gesichter.
Ein Soldat füllt Säcke mit feinem Sand,
einst spielte er damit.
Die Oktobersonne wärmt unsere Toten,
die Trauer ist ein schweres Brett aus Holz,
die Nägel sind die Tränen.]
Ich habe nichts zu sagen über den Krieg,
ich kann nichts hinzufügen – ich schäme mich.
Auf alle Erfahrungen meines Lebens
verzichte ich, wie eine Wüste auf Wasser.
Ich vergesse Namen, die ich niemals
vergessen wollte.
Weil Krieg ist, sage ich noch einmal
um der letzten, einfachen Süße willen:
Die Sonne kreist um die Erde, ja,
die Erde ist flach wie ein verlorenes Brett
und blüht, ja,
es gibt einen Gott im Himmel, ja.
O-Ton 7 BR-alpha [1‘ 07]
Corinna
Benning In Ihren Gedichten gibt es
auch immer wieder existentielle Nöte und existentielle Kämpfe, die sie
beschreiben. Welches der Erlebnisse, die Sie z.B. in den fünf Kriegen
durchgemacht haben, hat Sie besonders geprägt oder beeindruckt?
Jehuda Amichai Sehr viel. In jedem Gedicht etwas Persönliches. Das ist
sozusagen die Energiequelle des Gedichts, der Motor, etwas ganz Persönliches -
ein Satz, den vielleicht nur ich und noch jemand versteht. Sehr vieles in der
Liebe und im Krieg also die beiden – die können sehr traumatisch sein und
traumatisch ist nicht nur schlecht. Eine große Liebe kann auch traumatisch
sein, wunderbar - ich meine, wo man
sich nicht mehr beherrschen kann. Das ist eine Art Privatarchiv, das man
anlegt - nur für sich. Es ist mir ganz unwichtig, ob die Leute wissen, wer
gemeint ist und wann genau etwas geschah, sondern es ist ein Privatarchiv - für
mich, nur für mich geschrieben, um durch die Worte selbst wieder ins
Gleichgewicht zu kommen.
Spr.
1:
Mein kleiner Sohn duftet nach Frieden
Wenn ich mich über ihn beuge –
Das ist nicht nur Seifengeruch.
Alle Leute waren Kinder, die nach Frieden
Dufteten. (Es dreht sich kein Mühlrad mehr
Im ganzen Land.)
Oh, dieses zerrissene Land, wie Kleider,
Die man nicht mehr flicken kann.
Harte einsame Väter im Doppelgrab der Höhle Machpela.
Kinderlose Stille –
Mein kleiner Sohn duftet nach Frieden.
Seiner Mutter Schoß versprach ihm
Was Gott nicht halten kann.
2. Musik
3: Nizza Thobi, Unter di grininke bejmelech [22‘‘] (Anfang, ohne Gesang)
Sprin. 1:
(drüber)
Israel ist ein kleines Land. Auf einer Fläche, in etwa so groß wie
Hessen, leben etwa 7 Millionen Menschen. Kein Wunder also, dass die Israelis –
wenn möglich – gerne verreisen. Mehr als manch andere hatte Jehuda Amichai
die Gelegenheit dazu. Seine Gedichte machten ihn nicht nur in Israel bekannt.
Sie wurden ins Englische übersetzt und in viele andere Sprachen. Einladungen zu
Lesungen und Vorträgen führten ihn in die USA, nach Europa, Asien und Südafrika.
Manchmal blieb er mehrere Monate, um einen Lehrauftrag an einer Universität
wahrzunehmen. Meist aber kam er für einige Tage, um seine Gedichte vorzutragen.
Trotz seiner Popularität in Israel und der weltweiten Anerkennung hat er sich
nie als Dichter in Szene gesetzt. Bis zu seiner Pensionierung unterrichtete er
hebräische Literatur an der Universität in Jerusalem.
O-Ton 8 BR-alpha [1‘44]
Jehuda
Amichai Ich lebe absolut normal.
Ich sehe auch wie ein Dichter aus im allgemeinen. Ich glaub, Dichter müssen
lange Haare oder Zöpfe oder Ohrringe oder was weiß haben, viel trinken oder
viel Drogen nehmen und sich schlecht benehmen usw. Weiß Gott, was man alles so
von Bohemiens verlangt. Ich bin sehr davon entfernt. Ich lebe sehr, auch meine
Familie ist sehr, wir sind eine sehr normale Familie. Das ist meine zweite Ehe.
Wir sind verhältnismäßig eine sehr normale Familie. Ich habe auch nie
geschrieben und gesagt: "Ruhe jetzt, ich habe ein großes Gedicht! Das Haus
muss ruhig sein, die Kinder müssen im Haus auf Strümpfen laufen!" Im
Gegenteil, als die Kinder noch in der Schule waren, haben sie ihre Schulaufgaben
bei mir im Zimmer gemacht, das hat mich nicht gestört. Jede Kunst, die muss so
robust sein, dass man sie überall machen kann.
Corinna Benning: Sie sind international ein anerkannter Dichter, Sie sind
mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, und Ihre Bücher sind in mehr
als dreißig Sprachen übersetzt. Ein Prominenter, ein bescheidener Prominenter,
der auch prominente Freunde hat. Sie waren z. B. mit Itzak Rabin sehr gut
befreundet.
Jehuda Amichai: Gut, wir waren beide damals in dieser Truppe namens
Haganah, das war eine Elitetruppe. Er war in Jerusalem, und ich war im Süden,
in der Wüste Negev. Er war schon ein großer Kommandant, und ich war nur ein
kleiner stellvertretender Kompanieführer in einer Guerillatruppe. Wir sind
dieselbe Generation. Er war ein sehr ruhiger Mann. Als er den Friedenspreis
erhielt in Oslo, hat er mich und meine Frau eingeladen dorthin zu fahren, er hat
ein Gedicht von mir in seiner Rede in englischer Übersetzung gelesen.
O-Ton 9
Nobel Concert 1 [55‘‘]
Klatschen,
dann Moderator Honorable nobel laureates ...
Spr.
2:
Sehr geehrte Nobelpreisträger, ehrenwerte Gäste. Zum ersten Mal in
seiner Geschichte hat das norwegische Nobelpreiskomitee entschieden, zusätzlich
zu der offiziellen Verleihung gestern, noch eine eigene Friedensnobelpreisgala
hier im Nationaltheater zu veranstalten. Unter den Gästen sind natürlich die
drei Nobelpreisträger.
.. the three nobel laureates.
Klatschen (langsam runterziehen)
Sprin. 1:
(drüber) Im Dezember 1994
wurden Schimon Perez und Yitzak Rabin auf israelischer und Yassir Arafat auf palästinensischer
Seite mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Vorher hatten die Beteiligten
sich im Osloer Abkommen auf die Schaffung einer palästinensischen Autonomie
geeinigt. Der Frieden im Nahen Osten schien in greifbarer Nähe.
O-Ton 10 Nobel
Concert 2 [2‘25]
Klatschen, dann Moderator
In a atmosphere of hope ...
Spr.:
2:
In einer Atmosphäre der Hoffnung und des Optimismus schätzen wir uns glücklich,
zwei hervorragende literarische Persönlichkeiten bei uns zu haben. Aus Israel:
Herrn Jehuda Amichai, der Deutschland mit seinen Eltern bereits 1935 verlassen
hat, um sich ein Leben dort aufzubauen, wo Israel entstehen sollte. Seit seinem
18. Lebensjahr, hat er vier mal an bewaffneten Auseinandersetzungen
teilgenommen. Er kennt den Krieg sehr gut. In seinem Land wird er als
Volksdichter angesehen, als eine tief respektierte Stimme der Menschen. Das
Gleiche kann von seinem palästinensischen Kollegen hier an diesem Abend gesagt
werden, von Herrn Izzat al Gazawi. Beide haben die Kämpfe und die Not ihres
Volkes durchlebt. Herr Gazawi war wegen politischer Aktivitäten zwei Jahre in
einem israelischen Gefängnis und er hat seinen Sohn Rami im Teenageralter
verloren, der erschossen wurde, als Truppen während eine Demonstration das
Feuer eröffneten. Trotz solcher tragischen Verluste und dem Leid, das beide Männer
erlebten, haben sie als Künstler und als Menschen ein gemeinsames Ziel:
Frieden, dauerhaften Frieden für ihre Völker.
Um uns durch diesen Abend in Form eines persönlichen und poetischen Dialogs zu
begleiten, mache ich nun die Bühne frei für Izzat al Gazawi und Jehuda Amichai.
.. Izzat al Gazawi and Yehuda Amichai.
Klatschen (runterziehen)
O-Ton 11
Nobel Concert 3 [47‘‘]
Jehuda Amichai (drüber) Even
my loves are measured by wars ...
Spr.
1: Sogar meine
Liebesbeziehungen werden nach Kriegen
gemessen. Ich sage, das geschah nach dem
Zweiten Weltkrieg. Wir trafen uns am Tag
vor dem Sechs-Tage-Krieg. Nie sage ich,
vor dem Frieden 45/48, oder mitten
im Frieden 56/67.
Doch das Wissen um Frieden
zieht von Ort zu Ort
wie Kinderspiele,
die sich überall gleichen.
... the same everywhere.
Klatschen
Sprin. 1:
Sein Leben lang trat Amichai für eine Verständigung mit den Palästinensern
ein. Einmal engagierte er sich kurz in der Friedensbewegung. Doch, er war kein
Pazifist. Und auch seine Gedichte sind nicht pazifistisch. Den Krieg als
menschliche Erscheinung lehne er ab, hat er in einem Interview gesagt.
Aber er sei kein Selbstmörder. Im Ernstfall verteidige er sich. Und
Ernstfälle gab es genug in der kurzen Geschichte Israels.
O-Ton 12
BR-alpha [1‘01]
Jehuda
Amichai Ich war bei allem mit
dabei. Ich habe nie gesagt: "Ich bin Dichter, man muss mich behüten, man
soll mich zur Feuerwehr oder in ein Sanitätskorps oder in die Propaganda oder
zum Radio gehen". Ich war dabei, nicht, weil ich das unbedingt wollte -
aber ich glaube, als Dichter hat man genauso die Verpflichtung wie jeder andere,
in den Krieg zu gehen [In England während des Zweiten Weltkriegs da gab sehr
große Dichter, die ich sehr gerne hatte, wie Dylan Thomas und Stephen Spender.
Die waren aber alle im Propagandaministerium in London. Man hat sie behütet und
gesagt: "Mein Gott, der Dichter darf nicht getroffen werden".] Ich
habe mich nie so gefühlt, ich bin ein Dichter, ich bin besser als andere, ich
muss mehr geschützt sein. Deshalb schreibe ich bis zum heutigen Tag, weil das für
mich in meinem Leben eine sekundäre Sache ist: Ich bin kein Dichter, ich bin
ein Mensch, der Gedichte schreibt.
Spr.
1 / Sprin 2:
werden niemals Blumen wachsen
im Frühjahr.
Der Ort, an dem wir recht haben,
ist zertrampelt und hart
wie ein Hof.
Zweifel und Liebe aber
lockern die Welt auf
wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und ein Flüstern wird hörbar
an dem Ort, wo das Haus stand,
das zerstört wurde.
Sprin. 1:
In Amichais Gedichten geht es nicht um Propaganda, Pathos oder
Engagement. Amichai ist so sehr Teil des Zeitgeschehens, dass Distanzierung
nicht glaubhaft wäre. Er kenne nicht die Wohltat, sich zu engagieren, dann zu
desengagieren nach eigener Wahl. – Als 1988 der erste Gedichtband von Jehuda
Amichai auf Deutsch erschien, hat Christoph Meckel dies im Nachwort so
geschrieben. Kennen gelernt hat er seinen israelischen Dichterkollegen dann
etwas später in Berlin.
O-Ton 13
Christoph Meckel [15‘‘]
I
Ich hörte durch Zufall, dass er in einer Schule eine
Lesung hatte, und da ich wusste, dass die Deutschen nicht sehr gastfreundlich
sind, aber ein Israeli die Welt nicht versteht, wenn er nicht gastfreundlich
empfangen wird, ging ich also in die Schule.
Sprin. 1:
Und tatsächlich kümmerte sich keiner um den Gast aus Israel. Christoph
Meckel übernahm diese Aufgabe. Das war der Anfang einer intensiven
Freundschaft.
O-Ton 14
Christoph Meckel [44‘‘]
Also, er hat sich sehr gefreut, dass jemand kam,
einfach so, und sich um ihn kümmerte. Das war der Anfang dieser Freundschaft,
die sich in Deutschland zeigte, die aber vor allem in Jerusalem stattfand
sozusagen. Ich habe ihn sehr oft gesehen, da ich in diesen Jahren, Ende der
80er, Anfang der 90 er Jahre sehr oft in Israel war, so dass ich ihn zuhause
kannte, in der Stadt kannte und er zeigte mir vieles. [Es war eine ganz einfache
Freundschaft, er war überhaupt kein kompliziert erscheinender Mensch. Natürlich
war er kompliziert, aber er erschien leicht, sehr sinnenhaft und sehr
freundlich.]
Sprin. 1:
Seit seiner ersten Israelreise Anfang der 1970er Jahre beschäftigte sich
Christoph Meckel intensiv mit der israelischen Literatur, obwohl es damals noch
kaum Übersetzungen ins Deutsche gab.
O-Ton 15
Christoph Meckel [ 35‘‘]
Ja, und Amichai war halt einer, der - über den man
unbedingt fallen oder fliegen musste, weil seine Stimme zentral ist in dieser
Poesie. Und weil sie eine große Fähigkeit hat, die Gedichtsprache von Jehuda
Amichai. Sie erscheint leicht fasslich. Die Gedichte sind einfach. Sie sind
unglaublich kompliziert und vielschichtig. Sie erscheinen aber einfach. Es sind
Gedichte, die sich einprägen, das gehört zum Lesen und zur Genialität seiner
Poesie.
Musik 7: Elohim ...
Sprin. 2:
(drüber)
Gott hat Erbarmen mit Kindergartenkindern,
Mit Schulkindern – weniger.
Mit Erwachsenen hat Er kein Erbarmen mehr,
Er läßt sie allein.
Manchmal müssen sie blutüberströmt
Auf allen Vieren
Im glühenden Sand kriechen,
Um den Sammelplatz zu erreichen.
Doch vielleicht erbarmt Er sich
Der Liebenden, vielleicht schützt er sie
Wie ein Baum den Schläfer auf einer Bank
Im öffentlichen Park.
Vielleicht werden wir ihnen sogar
Unseren letzten Mitleidsgroschen geben,
Den wir von Mutter geerbt – damit ihr Glück uns beisteht –
Jetzt und in künftigen Tagen.
Sprin. 1:
Die Gedichte Amichais sind in der israelischen Gesellschaft präsent. Sie
füllen die Regale in den Buchhandlungen und finden sich in Schulbüchern und
Zeitungen. Sie werden von Musikerinnen wie Nizza Thobi und Yehudit Ravitz
gesungen, und sie werden auf privaten Feiern und bei öffentlichen Anlässen
zitiert, in der Knesset etwa und im Obersten Gerichtshof.
O-Ton 16
Christoph Meckel [58‘‘]
Darauf sind die Israelis sehr stolz, denn wo – in
welchem Land – wird im Bundestag
oder in den entsprechenden Gremien und Tribünen von Poesie gesprochen oder
Poesie zitiert. Das zeigt, Amichai wurde gebraucht.
Das liegt aber auch daran, dass die Israelis die Poesie brauchen, dass
sie sie lieben und wissen: Die Poesie ist wie alles in der Kunst, die Kunst überhaupt,
ist ein Ausdruck unserer Leiden und unserer Existenz. Sie sind vollkommen direkt
mit Poesie konfrontiert im Gegensatz zu allem in Deutschland hier, wo ja Poesie
umgangen wird, wo Poesie überhaupt keine Rolle spielt. Also nicht nur Amichai
ist der Volksdichter dort. Da sind viele andere auch. Das wird gebraucht für
das Leben dort, damit man durchhalten kann. Poesie stellt für die jüdische
Mentalität eine ungeheure Lebenskraft dar und eine Widerstandskraft.
3. Musik:
Nizza Thobi, Derech shtej nekudoth ower rak kaw jaschar echad
Sprin. 1:
(drüber) 1998 sang Nizza Thobi
im Münchner Literaturhaus dieses Lied. Die Internationale Frühjahrsbuchwoche
präsentierte Literatur aus Israel und Jehuda Amichai war unter den Gästen. Ihm
zu Ehren hatte sich Nizza Thobi entschieden – für diese Vertonung seines
Gedichtes „Zwischen zwei Punkten verläuft nur eine Gerade.
O-Ton 17 Nizza Thobi
Ich
weilte in Israel und dann rief man mich aus Bertelsmann Verlag und fragte, ob
ich werde für Amichai in München ein Lied singen. Und da wollte der Zufall
oder Nichtzufall so sein, dass ein Bekannter von Amichai hat mir dieses Lied
gegeben. Der hat gesagt, sing das, das ist ein sehr schönes Lied für dich.
Aber er wußte auch, was ich tue und mache, denn ich singe Lieder gegen das
Vergessen und Lieder mit politischem Anspruch. Und er hat gesagt, sing das Lied.
Musik: Nizza Thobi, Derech shtej nekudoth ...
Sprin. 2:
(drüber)
Ein junger Stern heiratete
eine Sternin
Drinnen sprach man Deutsch
Über eine große drohende Gefahr
Ich wollte mich an ein Lied erinnern
Aber ich erinnerte mich an den Satz
Zwischen zwei Punkten verläuft nur eine Gerade
Ein streunender Hund verfolgte uns die Straße entlang
Ich schrie, warf einen Stein, aber er wollte nicht loslassen
Später sind wir ihm verloren gegangen
Und er selbst verschwand
Zwischen zwei Punkten verläuft nur eine Gerade
Dein kleines Weinen reicht für viele Schmerzen
Wie eine Lokomotive, die viele Waggons zieht
Wann werden wir heimkommen – Warte noch ein bisschen
Zwischen zwei Punkten verläuft nur eine Gerade
Manchmal ist die Sonne männlich, manchmal weiblich
Manchmal sind wir zu zweit, manchmal mehr als eine Myriade
Manchmal weiß ich nicht, wer unsere Hand halten wird
Zwischen zwei Punkten verläuft nur eine Gerade
Unser geschriebenes Leben wurde zum mündlichen
Unser jenseitiges zum diesseitigen
Unser eilendes, an uns vorbeiziehendes Leben
Zwischen zwei Punkten verläuft nur eine Gerade
O-Ton 18 Nizza Thobi [1‘32]
Ich
denke mir, also Jehuda Amichai ist sehr schwierig zu interpretieren. Aber für
mich war das klar, dass das Lied hat zu tun mit der Kindheitszeit
von Jehuda Amichai. Er war in Würzburg geboren. Und er spricht in dem
Lied, dass er hört – also drinnen sprach man Deutsch, U’wifnim dubar
germanit, über eine nahende Gefahr. Für mich ist es nur eine Interpretation:
Er spricht über eine nahende Gefahr, über das Aufkommen von den
Nationalsozialisten. Und: Zwischen zwei Punkten verläuft nur eine Gerade.
Ich verstehe das so, dass diese zwei Punkte – also man kann das natürlich
verschieden interpretieren – aber ich denke, dass das der Zug nach Auschwitz
ist, denn: als seine Begleiterin sagt, wann werden wir heimkommen. Dann sagt er
vorher, dein kleines Weinen reicht für viele Schmerzen wie ein Lokomotive, die
viele Waggons zieht. Warum diese Waggons, warum der Hund vorher, der nicht
loslassen wollte und plötzlich verschwand?
Sprin. 1:
In vielen seiner Gedichte und vor allem in seinem Roman „Nicht von
hier, nicht von jetzt“ setzt sich Jehuda Amichai mit seiner Kindheit im
Deutschland der 20er und 30er Jahre auseinander. Eine zentrale Rolle spielt
dabei seine Spielgefährtin, die kleine Ruth. Immer wieder taucht sie in seinen
Gedichten auf und auch in seinem Roman ist sie präsent. Ruth gelingt die Flucht
vor den Nazis nicht. Sie wird nach Auschwitz deportiert und ermordet – wie
viele andere, die in Deutschland geblieben waren. Als überzeugte Zionisten
waren seine Eltern und seine gesamte Verwandtschaft bereits Mitte der 30er Jahre
nach Palästina ausgewandert und entkamen so den nationalsozialistischen
Massenmorden. Das mag wohl einer der Gründe sein, dass Amichais Erinnerungen an
seine Kindheit in Würzburg größtenteils positiv sind.
Musik 8: Pessachlied (kurz
frei stehen lassen)
Spr.
1:
Ich stamme aus einer tief religiös orthodoxen Familie, deren Wurzeln
viele Jahrhunderte lang in Süddeutschland waren. Meine Großeltern lebten als
Landjuden in zwei kleinen Gemeinden in Unterfranken und im Hessischen. Ich
erinnere mich noch sehr gut an sie. Sie hatten Höfe, fast Güter, mit Vieh und
Feldern, mit Obst- und Gemüsegärten, mit Pferden und sogar einer Kutsche, mit
Knechten und Mägden. Sie waren strenggläubig und hielten alle Gebote ohne
Nachgedanken oder Zweifel. – Ich
glaube, dass eine Kindheit in einer religiösen und sogar streng orthodoxen
Familie es in sich hat, einen zum Dichter zu machen. Da gibt es Gebetszeiten und
Feste und Fasttage mit wenig Zeit fürs ziellose Spielen. Doch sind all diese
Riten und Bräuche und Taten „poetisch“, es sind Spielregeln einer höheren
Ordnung, die ganz dem Kinderherzen entsprechen. Da gibt es Übernatürliches und
symbolischen Zauber, die alle ernst und schicksalsbeladen sind. Und all dies ist
so poetisch, weil es nicht poetisch sein will, also richtiges, wahres Künstlertum.
Musik 8: Pessachlied (kurz frei stehen lassen)
Spr.
1:
(drüber, Lied läuft weiter)
Judentum war für mich ein Königreich und eine große Liebschaft. Da gab es
viele Gesten mit Verbeugungen und mit Knicks, mit Bedecken der Augen und mit dem
einmal im Jahr Sich-auf-die-Erde-werfen, um mit dem Gesicht den Boden zu berühren.
[Da gab es Schofarblasen auf dem hohlen Widderhorn, ganz urtiefe Klänge aus der
Kindheit der Menschheit. Da gab es traurige, geheimnisvolle Totengedenkfeiern,
bei denen nur Erwachsene in der Synagoge bleiben durften.] Da gab es die Kerzen
des Chanukka-Festes, die das Ölwunder und den Sieg der Makkabäer über die
Griechen feierten. Da bauten wir, alle zusammen, die Laubhütten in Erinnerung
an die vierzigjährige Fahrt durch die Wüste ins Heilige Land. Ja, all dies war
Erinnerung an den Tempel und das Königreich Israel.
Palmzweige wurden geschwungen im deutschen kalten Herbst, Früchte aus dem
Orient, Datteln, Feigen, Orangen, Johannisbrot wurden feierlich am Baumfest
gegessen. Inbrünstige Bittgebete für Regen wurden gesungen im Schneegestöber.
Der Kreuzberg in der Rhön war für meine kindliche Phantasie der Berg Sinai,
auf dem Moses die Gesetzestafeln in Donner und Blitz erhalten hatte. Dass ich
seitdem den richtigen Sinaiberg bestiegen habe, ändert nichts an der
verinnerlichten Wahrheit des Erlebens. Unweit von Würzburg in einer Talmulde
zwischen zwei bewaldeten Hügeln war für mich das Tal Eliah, in dem der junge
Hirte, David, den Riesen Goliath besiegte. Dass ich später bei Schulausflügen
das richtige Tal im Lande Israel sah, stört mein tiefes Bild nicht. Judentum
und jüdische Geschichte geschahen für mich auf deutschem Boden. Die ganze Welt
war jüdisch, ohne es zu wissen. Ich wußte es.
Musik 8: Pessachlied (kurz
frei stehen lassen)
Spr.
1:
In Würzburg gab es einen jüdischen Kindergarten, eine jüdische
Volksschule, ein jüdisches Lehrerseminar sowie ein jüdisches Krankenhaus und
Altersheim. Meine jüdische Welt war also gänzlich geborgen und vollkommen. So
dass, als 1933 das Naziregime begann, es für mich keinerlei Schock gab über
das Anderssein und Fremdsein. Ich war mir der nichtjüdischen Umwelt wohl
bewusst, und mit allem Gefühl des Fremd- und Andersseins fühlte ich mich sehr
wohl in der schönen Stadt Würzburg. Ich liebte die Gassen und alten Häuser.
Ich machte viele Wanderungen in die Landschaften ringsum. Wälder und Bäche,
Fluss und Brücken, Weinberge und Glockenklänge waren Teil meiner schönsten
Erlebnisse in frühester Kindheit.
Musik 3: Nizza Thobi, Unter di
grininke bejmelech [22‘‘] (Anfang, ohne Gesang)
Spr.
1:
(drüber) Im Jahre 1935 verließen
wir Würzburg und wanderten nach dem damaligen englischen Mandatsgebiet Palästina.
Das erste Jahr verbrachten wir in Petach Tikwa, der ersten jüdischen
landwirtschaftlichen Siedlung.
Musik 3 (hochziehen, frei
stehen lassen)
Spr.
1:
Petach Tikwa war damals ein idyllisches Großdorf. Kleine Häuser, meist
halbversteckt zwischen Zitrusplantagen, Sandwege und Gärten gab es da und
Palmen und Eukalyptusbäume und wilde Kinder, die meist barfuß spielten. Das
war in den ersten Wochen eine manchmal grobe Überraschung. Da kamen also
wohlbehütete jüdische Kinder aus Europa in Konflikt mit einer, so absurd es
klingen mag, fast unjüdischen Umwelt. Einer Umwelt, die sehr aufs Körperliche
eingestellt war, ganz unbelastet von bleicher Ghetto-Tradition, einer Welt von
Kindern und Tieren und Pflanzen, von Sonne und Braungebrannten im Freien,
unbeschwert von Vergangenheit.
Sprin. 1:
Schließlich zieht die Familie nach Jerusalem, wo Amichai den Rest seines
Lebens bleiben wird. Die neue Umgebung führt ihn weg von der Strenggläubigkeit
seines Elternhauses.
O-Ton 19
BR-alpha
Corinna Benning Fühlen Sie
sich Ihren Vätern und der Tradition, der jüdisch-orthodoxen Tradition in
irgendeiner Weise verbunden?
Jehuda Amichai Ja, ganz bestimmt. Durch die Sprache und durch alles,
durch Erinnerung. Ich sehe zwischen den Generationen absolut keinen Bruch. Ich
gehe nicht mehr in die Synagoge, gut, aber das hat damit nichts zu tun.
Corinna Benning Mit den
orthodoxen Ritualen haben Sie gebrochen. Warum?
Jehuda Amichai Ich habe
nicht eingesehen, warum ich das machen muss. Das hat nichts mit dem Glauben an
Gott zu tun - es war auch furchtbar langweilig.
[Corinna Benning Was haben
Ihre Eltern dazu gesagt?
Jehuda Amichai Gut, die
waren orthodox, sehr orthodox, aber auch sehr modern. Es war sehr schlimm für
sie. Aber ich habe, solange ich zu Hause war, nie versucht, etwas zu machen, das
ihnen nicht gefallen hätte. Die wussten es, und haben es ertragen, weil die
Liebe größer war als dieser Bruch.]
Musik 9: Schlomo Gronich, El
Malei Rachamim ...
Spr.
1:
(drüber)
Gott voller Erbarmen
Wär’ nicht Gott voller Erbarmen,
Wär’ Erbarmen in der Welt
Und nicht nur in ihm.
Ich, der ich Blumen pflückte am Berg
Und geschaut in alle Täler,
Ich, der ich Leichen von den Hügeln brachte,
kann erzählen, dass die Welt
Leer ist von Erbarmen.
Ich, der ich König des Salzes war am Meer,
Der entschlusslos an seinem Fenster stand,
Der die Schritte von Engeln zählte,
Dessen Herz Gewichte des Leidens hob,
In den furchtbaren Wettspielen,
Ich, der nur einen kleinen Teil der Wörter
aus dem Wörterbuch benutze
Ich, der ich, gegen meine Willen Rätsel lösen muss,
Weiß, dass, wenn Gott nicht
So voll Erbarmen wär’,
Dann wär‘ Erbarmen in der Welt
Und nicht nur in ihm.
O-Ton 20 Karlheinz Müller
[20‘‘]
Jehuda
Amichai war der Überzeugung, dass die Gebete wichtiger sind, als die Götter,
an die sie sich richten. Das klingt ungeheuer aufrührerisch. Trotzdem meine
ich, dass Amichai der von sich selbst immer wieder behauptete Atheist nie
gewesen ist.
Sprin. 1:
Karlheinz Müller war fast drei Jahrzehnte lang mit Jehuda Amichai
befreundet. Er lebt in Würzburg und hat Amichai kennengelernt, als dieser seine
Geburtsstadt besuchte. Als Theologe und Judaist spricht er fließend Hebräisch
und hat ein enormes Wissen über die jüdische Religion. So gab es genug Berührungspunkte
für eine intensive Auseinandersetzung.
O-Ton 21 Karlheinz Müller
[1‘29]
Er
hat wie kein anderer Dichter in Israel, hat er immer wieder auf Gott und auf die
jüdische gläubige Tradition verwiesen und hat natürlich jetzt diese Tradition
konfrontiert mit den konkreten Erfahrungen, die er gemacht hat, vor allem natürlich
auch in den Kriegen, in denen er gekämpft hat und viele Freunde verloren hat
und in denen er auch verwundet worden ist, und auf diesem Weg des Vergleichs
dessen, was die Gebete ihm sagten – Jehuda Amichai konnte alle wesentlichen
Gebete des Idur, des jüdischen Gebetbuches auswendig – im Vergleich damit,
kamen die Gebete einfach zu kurz. Sie kamen einfach nicht mehr mit, mit dem, was
für ihn erfahrbar war. Und so ist vor allem in seinem letzten Buch Patuach
sagur patuach die Kritik an der religiösen Tradition unüberhörbar. Und er hat
dann eben diese einzelnen, erhabenen Gottesbegriffe hat er buchstäblich mit
seiner Erfahrung der Wirklichkeit zersägt und klein gemacht und auf das Niveau
seiner Erfahrungen gebracht.
Spr.
1: Was habe ich in
den Kriegen gelernt:
Marschieren im Rhythmus des Schwingens der Hände und Füße –
Wie Pumpen, die aus einer leeren Grube pumpen.
Marschieren in der Menge und allein sein in der Mitte
Sich in Kissen und Decken vergraben und in den Körper einer geliebten Frau
Und >Mutter< schreien, ohne dass sie hört
Und >Gott< schreien, ohne an ihn zu glauben
Und sogar wenn ich an ihn glaubte
Würde ich ihm nicht über den Krieg erzählen
So wie man den Kindern nicht von den Ängsten der Erwachsenen erzählt.
Was habe ich noch gelernt. Ich lernte den Rückzug sichern;
In der Fremde nehme ich ein Hotelzimmer,
Neben dem Flughafen oder neben dem Bahnhof.
Um sogar in Hallen der Freude und des Jubels
Immer die kleine Türe zu sehen
Auf der in roten Lettern >Ausgang< steht.
Auch eine Schlacht beginnt
Wie rhythmische Trommeln zum Tanz und sein Ende
>Rückzug in der Morgenröte<. Verbotene Liebe
Und Schlacht, manchmal enden beide so.
Sprin. 1:
In seinem Aufbegehren gegen Gott und Religion, gegen Krieg und Pathos
steht Jehuda Amichai nicht allein in der israelischen Literatur.
O-Ton 22
Karlheinz Müller [29‘‘]
Wie
er eigentlich einzuordnen ist, dieser Protest gegen diese steifen, pathetischen
Zionisten, wie dieser Protest einen großen Teil der modernen Dichtung erfasst
hat in Israel und Amichai mitten unter ihnen war, sonst hat er sich eigentlich
mit den anderen Dichtern wenig solidarisiert, aber damals haben sie den Reim
aufgegeben und haben alles Pathos aus ihren Gedichten rausgenommen.
Sprin. 1:
Damals, Anfang der 50er Jahre, hatte sich Jehuda Amichai mit Nathan Zach,
Moshe Dor und anderen jungen Dichtern zusammengetan. Sie gehörten zur gleichen
Generation. Alle hatten im Unabhängigkeitskrieg 1947/48 gekämpft und die
Staatsgründung Israels mitgetragen. Nun protestierten sie gegen das
Establishment – nicht nur in der Literatur.
O-Ton 23
Karlheinz Müller [31‘‘]
Der
Nathan Zach hat verschiedene so theoretische Sachen geschrieben, die alle in die
Richtung gingen weg von dem zionistischen Pathos der Dichtung, das war ja so wie
im sozialistischen Staat oder überhaupt, da waren bestimmte Dichter, die waren
arriviert, und die Jungen, die mit ihren ganz neuen Erfahrungen am Rande
vibrierten, die durften in diesen Inner Circle gar nicht rein und die erkämpften
sich in dieser Chadasch, in dieser neuen Woge, erkämpften die sich den Zugang.
Sprin. 1:
Die Avantgardisten der Chadasch fanden sehr schnell eine breite
Leserschaft. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass sie diesseits aller
Ideologien dem einzelnen Menschen ihre Stimme gaben – dem Menschen mit all
seinen Nöten und Zweifeln, seiner Leidenschaft und Zärtlichkeit.
Spr.
1:
Der Regen spricht leise
du kannst jetzt schlafen.
Neben meinem Bett rascheln Flügel einer Zeitung,
es gibt keine anderen Engel.
Ich werde früh aufstehen und den neuen Tag bestechen,
damit er uns gut sei.
Du hast ein Traubenlachen:
viele Lachen, grün und rund.
Dein Körper ist voller Eidechsen;
sie alle lieben die Sonne.
Blumen wuchsen im Feld, Gräser auf meiner Wange.
Alles wäre möglich.
[Immer liegst du
auf meinen Augen.
An jedem Tag unseres gemeinsamen Lebens
löscht Kohelet eine Zeile aus seinem Buch.
Wir sind der rettende Beweis in dem furchtbaren Prozess.
Wir sprechen sie alle frei.]
Wie Geschmack von Blut im Mund
war uns der Frühling – plötzlich.
Die Welt ist wach heute nacht,
sie liegt auf dem Rücken, ihre Augen sind offen.
Der Mond passt in den Umriss deiner Wangen,
dein Schoß – in den Umriss der meinen.
Dein Herz spielt Blutfangen
in deinen Adern.
Deine Augen sind noch warm wie Betten,
die Zeit schlief in ihnen.
Deine Hüften, zwei süße, vergangene Tage,
ich komme zu dir.
Alle hundertfünfzig Psalmen
brüllen auf einmal.
O-Ton 24 Karlheinz Müller [49‘‘]
Die Liebesgedichte, ich brauchte da schon ein Speziallexikon, um die
ganzen erotischen Ausdrücke zu verstehen. Und dann musste ich ihn auch fragen,
was er da meint, und das war dann ziemlich peinlich eigentlich. (Lacht)
Er hat sich da ungern wiederholt. Es ist einfach fabelhaft. Für ihn ist
die Liebe eine Sache, die jenseits jeder romantischen Überhöhung ist, sondern
– wie hat er einmal ausgedrückt – in der Liebe benutzen zwei einander. Das
ist das Entscheidende. Der Mensch muss machen –
wie hat er geschrieben in dem Gedicht: Der Mensch in seinem Leben –
Liebe im Krieg und Krieg in der Liebe. Punkt.
4. Musik
3: Nizza Thobi, Unter di grininke bejmelech [22‘‘] (Anfang, ohne Gesang)
Spr.
1:
(drüber) Auf einem großen
Stein am Jaffa-Tor
saß ein goldenes Mädchen aus einem nördlichen Land
und ölte ihre Haut mit Sonnenöl ein,
wie am Strand.
ein Netz aus brünstigen Junggesellen ist dort ausgeworfen,
eine Ehebrecherfalle, und, noch weiter
im Halbdunkeln, stöhnende Hosen
von Alten und fremde Lust in der Maske des Gebets
und Traurigkeit und Verführungsgeschwätz in vielen Sprachen.
Einst war hier Hebräisch
die Straßensprache Gottes,
jetzt spreche ich in ihr
heilige Worte der Leidenschaft.
Sprin. 1:
Jahrzehntelang hat Jehuda Amichai in Jerusalem gelebt. Mitte der 30er
Jahre war er mit seinen Eltern gekommen und geblieben. Wie nur wenig andere Städte
der Welt ist Jerusalem zu einem Mythos geworden. Quer durch die Jahrhunderte
faszinierte die Stadt Menschen aus den verschiedensten Kulturen. Sie wird von
Religionen in Beschlag genommen und von Dichtern und Künstlern zur Wiege der
Menschheit stilisiert. Jehuda Amichai war Realist. Seine Jerusalem-Gedichte
bleiben auf dem Boden der konfliktreichen Tatsachen und bestechen durch ihren
unvergleichlichen Humor.
O-Ton 25 BR-alpha [53‘‘]
Corinna
Benning Sie haben einmal gesagt,
"Jerusalem ist das Venedig Gottes". Wie haben Sie das gemeint?
Jehuda Amichai Das habe ich
einmal gesagt, ja. Es fließt alles in den Straßen umher, die Religionen fließen
umher, ja. Aber das ist auch schlimm. Ich habe ein neues Gedicht, das jetzt nächsten
Monat auf Hebräisch herauskommt. Da frage ich: Warum Jerusalem, warum nicht München,
warum nicht San Francisco? San Francisco ist eine viel schönere Stadt. Soll
doch San Francisco die drei Religionen bekommen.
Corinna Benning
Aber Sie leben doch auch in Jerusalem?
Jehuda Amichai Ja, ich lebe
in Jerusalem. Und ich könnte absolut ohne das leben. Aber gut, das gibt viel
Spannung, viele Verrücktheiten, usw.
Corinna Benning Das ist
vielleicht gerade das Reizvolle.
Jehuda Amichai Ja, das
Reizvolle, aber nur wenn man das von außen sieht, da ist das immer sehr schön
- Romantik ist immer schön von außen.
Spr.
1 /Sprin 2:
All
diese Steine, all diese Traurigkeit, all
das Licht, Bruchstücke von Nachtstunden und Mittagsasche,
das ganze krumme Rohrwerk der Heiligkeit,
Mauer und Türme und rostige Heiligenscheine,
all die Prophezeiungen, die nicht an sich halten konnten wie Alte,
all die verschwitzten Flügel von Engeln,
all die stinkenden Kerzen, all der Prothesentourismus,
Erlösungsmist, Glückseligkeit und Hoden,
Augenmüll, Zeit, Bombe,
all der Staub, all diese Knochen
im Vorgang des Auferstehens und im Vorgang des Geistes,
all diese Liebe, all
diese Steine, all diese Traurigkeit.
Sprin. 1:
So illusionslos sich Jehuda Amichai gegenüber Jerusalem gab – er
liebte die Atmosphäre der Altstadt mit ihren Märkten und Bazaren. Seinen
Dichterkollegen Christoph Meckel nahm er hin und wieder mit auf seinen Streifzügen.
Sie liefen durch Gassen und durchquerten Innenhöfe, betraten Kirchen durch das
Hauptportal und verließen sie durch eine Tür hinter dem Altar, spazierten über
Dächer und duckten sich durch unterirdische Gewölbe. Jehuda Amichai zeigte
Christoph Meckel das Jerusalem, das in seinen Gedichten eine lyrische Form
findet.
O-Ton 26
Christoph Meckel [56‘‘]
Er ist nicht der Chronist der Geschichte, er ist nicht
der Chronist der Gesellschaft, sondern der Chronist des Alters und des Jungseins
von Jerusalem. Das Alter von Jerusalem ist für jeden Menschen frappierend.
Jerusalem existiert tief unter der Erde, auf der Erde und irgendwo über den Dächern
ist noch immer eine Festung oder eine Mauer oder eine Kuppel, es ist eine
unglaubliche vielfältige Stadt, ein Palimpsest, das heißt das eine überlagert
das andere. Also er ist ein unspezifischer, d.h. lyrischer Chronist, er gibt die
Stimmungen wieder, das Licht, die Farbe der Mauern, die schönen Frauen, er ist
ein sehr sinnenhafter Chronist.
Sprin. 1:
Besonders gerne besuchte Jehuda Amichai den Markt Schuk Machne Jehuda.
Ein Gemisch aus arabischen und hebräischen Lauten erfüllt dort die Luft. Juden
und Araber bieten ihre Waren feil und handeln gemeinsam Geschäfte aus. Eines
Tages führte Amichai auch Christoph Meckel dorthin. Die beiden setzten sich in
eine arabische Straßenküche. Vor ihren Augen lag der Markt mit den Obst- und
Gemüseständen. Christoph Meckel machte sich Notizen und versprach,
wenn daraus etwas entstehen sollte, würde er es Amichai widmen. Und es
entstand etwas daraus: Ein Gedicht, das keinen Titel hat, aber eine Widmung und
eine Anmerkung. Die Widmung lautet: für Jehuda Amichai; und die Anmerkung:
Jerusalem Schuk Machne Jehuda.
O-Ton 27
Christoph Meckel [1‘38]
Ich will auf einem Markt geboren sein
eine Frau – ich sah sie in keiner Zeit –
wird von guten Händen auf ein paar Säcke gelegt
ein Kind wird in die Tiefe der Welt geholt
an einer Mauerecke, in Staub und Schatten
der erste Schrei füllt die Lungen mit Granatapfelduft
ein Kind, ich bin es, wird gereinigt
mit Wasser, in dem die Früchte gewaschen werden
der erste Blick hält eine Maulbeere fest
der zweite liebt Pistazien und viele Pflaumen
der dritte verlangt alles Licht des Sonnensystems
ein Kind, ich bin es, ich werde es sein
wächst auf zwischen Kisten und Wassereimern, es lebt von Früchten
die es saugt, trinkt, küßt, in einem Atem
mit Kernen spielt es rechnen, sammeln, ordnen
und lernt verschwenden, es ist eine sorglose Schule
auswendig lernt es die Haut der Honigmelone
und liest in Gesichtern, die wiederkommen
hören lernt es Gelächter und Stimmen
Babylons Musik, unerschöpfliche Sprachen
träumen lernt es, es lernt träumen
vom Ursprung der Limone und ihrem Ort
vom Orangenbaum draußen, am Anfang des Meers, am Ende der Luft
wo der Tag zwischen Nächten erscheint, die Nacht zwischen Tagen
im Wechsel, der nicht unterbrochen wird
und geht, wenn es Zeit ist, hinaus zu den Bäumen
die Erde ist ein Garten ohne Draht und Stachel.
Musik 1: Nizza Thobi, Derech
shtej nekudot over rak kav jashar echad [30‘‘](Anfang, ohne Gesang)
Sprin. 1:
Jerusalem mit seinen lärmenden Gassen und wimmelnden Märkten liegt
am Rande einer Wüste. Jehuda Amichai kam gerne hierher. Seine Beziehung zur Wüste
hatte persönliche Hintergründe. Vor allem in seiner Jugend war er oft hier –
im Frieden und auch im Krieg. Er kannte die Wüste sehr gut. Es sei kein Wunder,
hat er in einem Interview gesagt, dass der Monotheismus in der Wüste entstanden
ist. Denn dort sähen die Menschen nur sich selbst, den Himmel und das
Universum. Es gebe nichts schönes, nichts ästhetisches, alles sei sauber,
gesichtslos, eine fast abstrakte Fläche. Es sei eine konkrete Abstraktheit. Das
bedeute Monotheismus.
Spr.
1 / Sprin 2: Hier
ist die Hoffnung hart,
ist die Sehnsucht verhärtet
und die Illusionen sind wie Stein.
Nur die Wirklichkeit ist
leicht und licht in der weißen Luft
und zittert in der Mittagshitze.
O-Ton 28 BR-alpha [31‘‘]
Corinna
Benning Sie haben auch ein Buch über
die Wüste geschrieben. Da verbringen Sie ja viel Zeit.
Was kann Ihnen die karge Landschaft der Wüste geben?
Jehuda Amichai Da wo die Wüste
ist, im Süden, war ich ja auch während des Krieges. Für den, der das nicht
erlebt hat, ist das sehr schwer zu beschreiben, gerade weil es so karg ist und
nicht grün. Alles ist so wichtig, jeder Baum ist ein wirklicher Baum, jedes
Wasser ist wirkliches Wasser.
Sprin. 1:
„Während des Krieges“ – das
war der Unabhängigkeitskrieg 1947/48. Jehuda Amichai hatte sich einer
Guerillagruppe angeschlossen, die im Süden gegen die ägyptischen Truppen kämpfte.
Wochenlang biwakierte er mit seinen Kameraden in der Wüste Negev, hielt
Nachtwachen und machte Erkundungsgänge. Er lernte die Wüste sehr gut kennen,
ihre Einsamkeit und Kargheit, ihre Hitze tagsüber und ihre nächtliche Kälte.
Das Kommando hatte Dickie, ein Schulfreund von Amichai. Immer wieder kam es zu
Zusammenstößen mit den Ägyptern. Dickie wurde durch einen Bauchschuss schwer
verletzt. Alle Versuche, ihn zu retten, schlugen fehl. Er starb qualvoll.
O-Ton 29 Interview BRalpha
[1‘26]
Jehuda
Amichai [Das ist ein Gedicht über
einen, der mit mir im Süden war zu der Zeit, als wir abgeschnitten waren und
gegen die große Übermacht der Ägypter kämpfen mußten. Er war mein
Kompaniekommandeur und ich sein Stellvertreter. Er ist in einem der Gefechte
gefallen.] "Auf diesen Hügeln sind sogar die Bohrtürme nur mehr
Erinnerungen. / Hier fiel Dickie, der vier Jahre älter als ich mir wie ein
Vater war in Not und Bedrängnis. / Jetzt bin ich um vierzig Jahre älter als er
und erinnere mich an ihn wie an einen jungen Sohn und ich bin nun ein alter
trauernder Vater. / Und ihr, die ihr euch nur an Gesichter erinnert, vergeßt
die ausgestreckten Hände nicht und die leicht dahin laufenden Füße und die Wörter.
/ Erinnert euch an das Hinausziehen in die schrecklichen Kämpfe, es führt
immer an Gärten und Fenstern vorbei, an spielenden Kindern und an einem
bellenden Hund. / Erinnert die fallende Frucht, die Blätter und den Zweig. /
Erinnert die harten Dornen, die im Frühling zart und grün waren. / Erinnert
euch und vergeßt nicht, auch die Faust war einmal eine offene Hand."