Janine Bauman
Winter in the morning
A young girls' life in the Warsaw ghetto and
beyond
Es gab Löcher in den Mauern, geheime Durchgänge
durch die Häuser, die an die arische Seite grenzten. Die Bewacher
der Tore - Deutsche, Polen, Juden - waren korrupt. Polnische Arbeiter der
städtischen Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke mussten Passierscheine
für das Ghetto haben, um ihren Pflichten auf deren Terrain nachzukommen.
All diese Wege benutzten Juden und Nicht-Juden täglich, um das Ghetto
mit Nahrung und anderen unentbehrlichen Artikeln zu versorgen. Meist versuchten
diese heldenhaften Menschen - unter ihnen auch Kinder - auf diese Weise,
sich und ihre Familien am Leben zu erhalten. Andere machten ein Vermögen
mit Schmuggel. Viele, sehr viele, starben durch Kugeln und Schläge.
Das große Justizgebäude am Leszno
diente beider Seiten und besaß daher zwei Eingänge: Einen für
die Arier auf der arischen Seite, einen für die Juden auf der
anderen Seite des Ghettos. Der Innenraum des Gebäudes war natürlich
strengstens bewacht, um einen Kontakt der Ankömmlinge aus den
zwei verschiedenen Welten zu verhindern. Doch mit Schlauheit und
Glück gelang es manchmal ein Treffen zu Stande zu bringen. Mutter
und Tante Mania trafen sich ein paar Mal im Justizgebäude. Außerdem
kam der Schwager von Tante Mania, der bei den städtischen Elektrizitätswerken
arbeitete, ab und zu bei uns mit einem Brief, Geld oder Sachen, die wir
dringend benötigten, vorbei.
Diesen Winter öffneten ein paar Geschäfte
mit für die damalige Zeit, ziemlich luxuriösen Artikeln sowie
Cafés und Restaurants. Eines Tages, als Mutter sich nach dem Treffen
im Gericht für einen Moment lang reich fühlte, nahm sie Zosia
und mich mit in das Restaurant am Leszno. Ich war nie zuvor in einem Restaurant,
also war es für mich ein interessantes Erlebnis. Trotz des hellen
Tages, waren die Fenster in dem geräumigen Saal verdunkelt. Diskretes
Licht floss von den hier und da aufgestellten Karbidlampen. Die kleinen
Tische waren mit weißen Tischtüchern bedeckt. Die Kellner trugen
dunkle Kleidung. Der Pianist und Geiger spielten ergriffen bekannte jüdische
Melodien und Zigeunerromanzen. Fast alle Tische waren besetzt. Die an ihnen
sitzenden Leute aßen und sprachen laut. Sie passten nicht zu dem
eleganten Interieur, aber dennoch fühlten sie sich hier augenscheinlich
zu Hause. Wir fühlten uns unbehaglich. Noch unbehaglicher fühlte
sich Mutter, als sie die Speisekarte las. Das Menü bot verschiedene
luxuriöse Gerichte, sowie französische Weine und andere vorzügliche
Alkoholgetränke. Die Preise waren erschütternd. Wären Zosia
und ich nicht gewesen, würde Mutter zweifellos vom Tisch aufstehen
und aus dem Restaurant gehen. Sie wollte uns jedoch nicht enttäuschen,
also blieben wir und bestellten das billigstmögliche Gericht: Bouillon
mit Nudeln, Tschulent und einen Pudding mit Kirschsaft. Das war ein
richtiges Festessen, unser bestes Mahl seit Jahren. Bis dahin hungerten
wir zwar nicht im Ghetto, unsere heimischen Mittagessen waren jedoch viel
bescheidener. Schwer seufzend zahlte Mutter die Rechung, und wir verließen
wohl gesättigt das Restaurant.
In dem winterlichen Sonnenschein des frühen
Nachmittags, gleich am Eingang zum Restaurant, stand ein wild behaarter
Mensch, völlig nackt und unter einem schmutzig zerrissenen Federbett,
das er sich über die Schultern geworfen hatte und das nur teilweise
seine ausgemergelte Nacktheit verdeckte. Er stand angelehnt an der Wand,
barfüßig und schweigend, wartend auf Almosen von den satten
Restaurantkunden. Ich kannte ihn vom Sehen: seit einiger Zeit war er ein
untrennbares Element des Stadtbildes vom Ghettos. Noch bevor Mutter ihren
Geldbeutel herausholen konnte, erschien vor uns, wie aus der Erde gewachsen,
ein jüdischer Polizist. Er versuchte den Bettler laut schreiend und
mit dem Knüppel drohend, zu vertreiben. Es dauerte ein wenig bevor
der Mann sich von der Wand rührte und sich dem Leszno entlang schleppte,
um ihn herum ein Wölkchen von Daunen, die aus dem zerrissenen Federbett
flogen.
Nach diesem ersten und einzigen Besuch im Restaurant,
hatte ich nie mehr Lust wieder hinzugehen. Und was den Bettler angeht -
ich sah ihn kurz darauf tot auf dem Gehsteig liegen, mit einer Zeitung
bedeckt auf der ein Stein lag. Ich erkannte, dass er es war, denn unter
der Zeitung ragte ein zerrissenes und von Schmutz schwarzes Federbett hervor.
Auf dem Leszno, ein paar Gebäude von dem
Haus entfernt, in dem ich zu dieser Zeit wohnte, diente das Vorkriegskino
„Femina“ diesen Winter als Philharmonie. So viele glänzende Musiker
waren jüdischer Abstammung, dass in dem Ghetto ein Symphonieorchester
von hoher Klasse entstand. Der Dirigent war Szymon Pulman. Ich hatte keine
Ahnung von klassischer Musik und war nie zuvor auf einem Konzert gewesen.
Es war Hanka, die mich zum ersten Mal mit ins "Femina" nahm. Das Orchester
spielte die „Pathetische Symphonie“ von Tschaikowsky. In dem verdunkelten
Saal saßen die Menschen bewegungslos und ergriffen. Später
sang ein achtzehnjähriges Mädchen das „Ave Maria“ von Schubert.
Sie hatte eine kräftige und klare Stimme, die durch die Mauern des
Saales zu dringen und sich weit über die Welt mit all ihren täglichen
Leiden zu erheben schien. Die Menschen weinten in der Dunkelheit, und auch
ich weinte. Die Sängerin hieß Miriam Eisenstadt. Sie überlebte
den Krieg nicht. Auch der Dirigent konnte sich nicht retten. So viel mir
bekannt ist, starben beide in Treblinka im Sommer des Jahres 1942.
Nach diesem ersten Konzert konnte ich das
nächste Mal kaum erwarten und ließ später keines aus, bis
die Deutschen sie verbaten. Man löste das Orchester schließlich
auf, weil es Stücke Deutscher Komponisten spielte, was den Juden strengstens
verboten war.
Ich ließ Tante Mania wissen, es läge
mir sehr viel daran, dass sie mir mein Vorkriegsgrammofon schickt. Ich
bin mir sicher, dass es schwer für sie war, ihren Schwager davon zu
überzeugen, dass jemand, der hinter den Mauern des Ghettos lebt, unbedingt
ein Grammofon benötigt. Scheinbar gelang es ihr jedoch, denn kurz
darauf bekam ich meinen Apparat. Im Inneren lagen ein paar Platten mit
Tangos und Foxtrotts, aber in diesem Moment interessierte mich das nicht.
Ich unterrichtete sofort meine besten Freundinnen, und wir arrangierten
ein Treffen mit einem Jungen aus Tropol. Dieser Junge beklagte sich einmal
darüber, nicht von seinen zahlreichen Platten mit klassischer Musik
Gebrauch machen zu können, weil er kein Grammofon besitzt. Eines Winterabends
ging ich zusammen mit meinen Freundinnen in sein Haus und nahm meinen Schatz
mit. Dort erwartete uns schon eine Gruppe Jugendlicher, und zusammen gingen
wir in das Nachbarzimmer. Es war ein völlig leeres und kaltes Zimmer,
das teilweise während der Belagerung zerstört worden ist. Wir
setzten uns auf den Boden. Unser Gastgeber brachte zwei Platten - die einzigen,
die er zu verkaufen noch keine Zeit hatte. Die eine enthielt die ersten
zwei Teile der fünften Symphonie von Beethoven, die andere - den dritten
und vierten Teil eben dieser Symphonie. Bis auf die Knochen durchfroren,
trotz der Mäntel und Handschuhe, verbrachten wir den ganzen Abend
damit diese zwei Platten zu hören. Als der vierte Teil zu Ende ging
spielten wir wieder den ersten, bis die Polizeistunde näher kam. Später
trafen wir uns jede Woche an diesem Ort und hörten dieselben Platten
bis zum Ende des Winters. Wir besaßen keine anderen Platten mit klassischer
Musik. Wir hatten nur die Fünfte von Beethoven.
In diesem Winter erfuhr ich, dass in dem großen
Gebäude in der Zelazna Straße gleich hinter dem Tor zum Ghetto
Vorträge auf dem Gebiet der Medizin stattfanden. Das Gebäude
stand auf der arischen Seite, aber der Kurs fand unter dem Patronat der
Jüdischen Gemeinde statt und war für jüdische Studenten
vorgesehen. In Wirklichkeit war es, glaube ich, ein vollständiger,
wenn auch unoffizieller Kurs des Universitätsstudiums Medizin. Hanka
und ich liefen sofort dorthin, und es gelang uns durch das gefährliche
Tor zu rutschen zusammen mit einer Menge von Studenten, die den Wächtern
spezielle Passierscheine vorzeigten. Als wir in das Innere des Gebäudes
kamen, war alles andere danach einfach. Wir gingen in den großen
Vortragssaal und fanden uns in der Welt der Genetik wieder. Sie wurde von
Herrn Ludwig Hirschfeld vorgetragen, einem hervorragenden Gelehrten Jüdischer
Abstammung. Der Vortrag war klar gegliedert und faszinierend. Wir verstanden
alles, obwohl wir gerade mal Schülerinnen der vierten Gymnasialklasse
waren und nicht die ausreichende Vorbereitung hatten ein Universitätsstudium
zu beginnen. Ein paar Tage darauf passierten wir wieder unbemerkt das Tor
und hörten einen weiteren Vortrag auf dem Gebiet der Genetik. Später
wurden jedoch die Kontrollen verschärft und als wir zum dritten Mal
versuchten durchzurutschen, ertappte man uns. Wir entkamen wie durch
ein Wunder kurz davor zusammengeschlagen zu werden, wenn nicht Schlimmere.
Wir mussten also auf weitere Medizinstudien verzichten. Dennoch, nach mehr
als vierzig Jahren erinnere ich mich heute noch an die grundlegenden Gesetzte
der Vererbungslehre.
Die meisten meiner Verwandten landeten wie wir
in dem Warschauer Ghetto. Ich traf mich manchmal mit einigen die ich besonders
mochte.
In der Nähe von Nowolipie wohnte einsam
die Schwester von Großmutter Ewa, Tante Bella. Ich schaute ab und
zu bei ihr vorbei, den ich mochte es, die Geschichte aus den Jahren ihrer
Jugend zu hören. Vor dem Krieg lebte Tante Bella in Luxus und gab
sich intellektuellen und sinnlichen Genüssen hin. |